1928: Vom ‘Fleuen’

Heinrich Sohnrey

 

Im September 1928 berichtete Heinrich Sohnrey in seinem Solling-Werk „Tchiff tchaff, toho!“ anschaulich und eindrucksvoll „Vom ‘Fleuen’“ (im Uslarer Raum) in jenen Jahren des beginnenden 20. Jahrhunderts:

"Wer zu Beginn des Frühlings - so schreibt Hauptlehrer Karl Jünemann zu Schönhagen in seinem hübschen Aufsatz [1] - von der Kreisstadt Uslar aus dem Ahletale die Straße über Schönhagen nach Neuhaus hinaufzieht, wird überrascht durch den vorgeschrittenen Graswuchs, der von dem langgestreckten Wiesenteppich zur Rechten des Weges herüberleuchtet.

In keinem anderen Gaue des lieben Hannoverlandes habe ich um Ostern herum das Gras auf den Wiesen derart entwickelt gesehen wie im schönen Sollingtale.

Diesen Vorsprung vor dem allgemeinen Wachstum zeitigt der Sollingbewohner im Bunde mit der Natur durch seinen unübertrefflichen Fleiß.

Tagtäglich wird den Winter über mit Grepe und Spaten, mit Hacke und Harke auf den Wiesen gearbeitet; sie werden vom Maulwurfs- und Ameisenhaufen gesäubert, das Ungeziefer wird nach Möglichkeit ferngehalten und das Wasser der Ahle und ihrer Nebenbäche in künstlichen „Fleue“-Gräben an die Wiesen herangeleitet.

Kleine Rinnen, in der Mundart Flütten genannt, die auf der Wiese selbst nach Bedarf immer wieder frisch gestochen werden, verteilen das heran geholte Wasser.

Um letzteres zu zwingen, daß es die Wiese an allen Ecken und Flecken gehörig tränkt, müssen bald hier, bald da kleine Sandsteinplatten oder Bretter in die „Flütten“ [Anm.: Rinnen] gestellt, an andern Stellen kleine Dämme mit der Grebe wieder ausgehoben werden.

Mit den erdenklichsten Mitteln und der eifrigsten Sorgfalt wird gearbeitet, bis die Grasnarbe regelrecht getränkt ist ...

Das „Fleuen“ oder Berieseln der Wiesen mit Bachwasser wird natürlich im Sollinge überall betrieben, ist aber auf den hochgelegenen Holzbergwiesen, wo das Wasser der Bergquellen oft große Schwierigkeit macht, erheblich mühseliger, als in den von stärkeren Bächlein durchschlängelten Untertälern.

Über die Flößerrechte gilt im Allgemeinen die alte Regel, daß das fließende Wasser von denjenigen Anliegern zunächst benutzt werden kann, denen es am ersten zufließt.

Obwohl nun die kleinen Bächlein der Holzwiesen wenig düngerhaltende Stoffe mitführen, spielt sich um das Haben und Nichthaben des Wassers doch oft ein Kampf ab, der gewöhnlich heftige Erregungen mit sich bringt, nicht selten gar zu Feindschaften für das ganze Leben führt.

Ein helläugiger alter Sollinger sagte mir:

Nächst den Wilderern sei das Wasserabgraben oder Abdämmen die größte Leidenschaft im Sollinge.

Sie brächte unter Umständen die besten Freunde und Nachbarn auseinander.

Das Bächlein ist noch klein und dürftig, oft kaum einen Schritt breit; und nur einer von den Wiesenanliegern kann „fleuen“, wenn es Art haben soll.

Da kommt Kreike nach dem Jägeranger, und sieht, daß sein Nachbar Sauer das Wasser allein hat, und das Sauer sich gerade noch auf der Wiese befindet, legt Kreike sich in den Busch und wartet, bis Sauer weg ist. Kaum ist der außer Sichtweite, so macht Kreike sich eiligst daran, ihm das kostbare Wasser abzulassen.

Er lacht sich ins Fäustchen und denkt:

Diese Nacht behälst du sich das Wasser.

Eben hat Ackermann Kreike den Heimweg angetreten, da kriecht Vollkötner Klages aus dem Busche und läßt Kreike das Wasser ab.

Und nach Klages kommt Schuster Pape aus dem Graben und vielleicht noch mancher mehr, so daß der eine nicht nur von dem andern betrogen, sondern auch nach Gebühr und Gerechtigkeit bestraft wird...

In den Untertälern, wo die Bäche schon stärker sind und ein Aufdämmen des Wassers mit Schwierigkeiten verknüpft sein würde, sind überall Stauanlagen in die Bachläufe gebaut, die natürlich nicht unerhebliche Kosten verursachen.

Der Grund und Boden an der betreffenden Stelle muß gewöhnlich mit Buchenbohlen ausgerammt werden, auf die mit breiten Flügeln versehene Kasten von Sandsteinquadern kommen.

Je nach Größe des Staues finden sich in dem querliegenden Grundbaume und dem ebenfalls quer liegenden Schlotbaume oben ein bis fünf Sprossen eingezimmert, die den einzelnen Schütten den Rückhalt geben müssen.

Einige der durch Umbau erneuerten Anlagen sind mit eisernem Windwerk versehen, um das Auf- und Niederlassen der Schütte leichter bewerkstelligen zu können.

Diese Anlagen und die entsprechenden Fleueberechtigungen haben natürlich einen großen Wert, einen größeren jedenfalls, als die Quellen der Holzbergwiesen.

Ist doch durch diese Stauanlagen der Landwirt in die Lage gesetzt, den durch Regengüsse von den beackerten Berghängen herunter geschwemmten Schlammboden wieder auf die Wiesen zu schwemmen, somit die Kosten für anderen Dünger zu sparen.

Nicht zu vergessen, daß er in trockenen Jahren und Jahreszeiten seine Wiesen immer feucht zu halten vermag, wodurch die Dürre für den Bauern im Sollinge weniger empfindlich wird, als in anderen Gegenden.

Gerade dies Berieseln bei der Dürre und im Sommer zwischen der Heu- und Grummeternte hat immer wieder Anlaß zu Streitigkeiten unter den Wiesennachbarn gegeben...

Die alte Flössezeit sollte vom Peterstag (22. Februar) bis 1. Mai dauern.

Nach der Verkoppelung wurde wurde das Flösserecht so geregelt, daß jeder Wiesenbesitzer seinen bestimmten Tag hatte.

Eine besondere Polizeiverordnung des Landrats von Uslar vom 14. November 1913 sucht das Fleuen noch in folgender Weise zu regeln:

1. Bei Frostwetter ist das Bewässern der Wiesen verboten.

Beim Eintritt von Frostwetter muß sofort Fürsorge getroffen werden, daß ein Austritt des Wassers auf die Wiesen verhindert wird.

2. Zuwiderhandlungen gegen dies Vorschriften dieser Polizeiverordnung werden in jedem Einzelfalle mit Geldstrafe bis zu 30 Mark, im Unvermögensfalle mit entsprechender Haft bestraft.

Bei alledem ist jedoch nicht anzunehmen, daß man sich so streng an die gesetzte Zeit hält.

Jedenfalls weiß ich von Eschershausen, daß in der dortigen „Grund“, dem größten und eigenartigsten Wiesental des Sollings, so ziemlich das ganze Jahr gefleut wird...

Übrigens gehe es so schlimm wie in früheren Jahren heute beim Fleuen nicht mehr zu ...

Es würde jetzt mehr gedüngt, hauptsächlich mit künstlichem Dünger, und das Futter hätte darum einen ganz anderen Wert.

Früher freilich wäre für die Wiesen kein anderer Dünger dagewesen wie das Wasser...

Schließlich wäre noch zu bemerken, daß bis zum 31. März 1929 sämtliche Fleuerechte ins Wasserbuch eingetragen sein müssen.

Ob danach nun volle Ordnung und Harmonie auf den schönen Sollingswiesen eintreten wird?"

 

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[1] Niedersachen 1921, Nr. 20.