„Schandjahr“ 1848

Klaus A.E. Weber

 

Steinschlossgewehre, Exerzierübungen und Schnaps

Stadtoldendorfer Bürgerwehr im „Schandjahr“ 1848

Seit 1846 Leiter des Obergrenzbezirkes Stadtoldendorf im Hauptzollamtsbezirk Holzminden nahm der preußische Premier-Lieutenant und Steuerrat Justus Heinrich Wilhelm Lohmann (1804-1885) im Vorfeld der Ereignisse vom 22. März 1848 präventiv Einfluss auf den Ortsvorsteher von Merxhausen und das Verhalten der Dorfbewohner, denen damals das Hemd näher schien als der Rock.

Ohnehin fand er als streng auf Zucht und Ordnung setzender preußischer Beamter "unerquicklichen Verhältnisse" im Herzogtum Braunschweig vor, insbesondere bei der hier zu laxen obrigkeitsstaatlichen Aufsichtsführung.

Den von Justus Lohmann wohl erst um 1880 verfertigten Lebenserinnerungen ist die folgende ausführliche, allerdings subjektiv gefärbte Schilderung zu entnehmen:[1]

"Nachdem ich zwei Jahre in Helmstedt gewesen war, hatten die Zollvereinsstaaten mit dem Steuervereine wieder ausgesöhnt, und in Folge dessen trat Hannover auch den südlichen Theil des Amts Fallersleben wieder an den Zollverein ab, was dann auch die Auflösung des Ober-Grenz-Kontrollbezirks Helmstedt zur Folge hatte.

Alle Aufseher meines Bezirks wurden nun theils im Herzogthume Braunschweig wieder untergebracht, theils aber auch nach Preußen zurückversetzt, und mir wurde der Ober-Grenzbezirk Stadtoldendorf im Haupt-Zollamtsbezirk Holzminden übertragen.

Auch hier, wo ich mit meiner Familie am 1. Januar 1846 anlangte, war in der Dienstverwaltung eine arge Unordnung und das Aufsichtspersonal recht verwahrlost.

Der berittene Grenzaufseher Paternack, ein Preuße, hatte den Ober-Kontrole-Bezirk 10 Monate lang commissarisch verwaltet, und recht sehr verwahrlost.

Zum dritten Male hatte ich im Winter meinen Umzug, und dies Mal auf eine Entfernung von 20 Meilen zu bewirkten.

Ich hatte zwar mit meiner Versetzung nach Stadtoldendorf eine Gehaltszulage von 100 rtl. jährlich erhalten, also ein Einkommen von 600 rtl. dazu 160 rtl. jährliche Pferdeunterhaltungsgelde …

...

In dem Schandjahr 1848 ging es auch im Herzogthum Braunschweig, besonders auch in Stadtoldendorf toll zu.

Wie überall so bildete sich auch hier eine Bürgerwehr.

Ich wurde ersucht, das Kommando derselben zu übernehmen, was ich jedoch unter dem Vorgeben ablehnte, daß meine Dienstgeschäfte dies nicht gestatteten, dahingegen genehmigte ich, daß die Aufseher der Station in dienstfreien Stunden die Exercir-Übungen leiteten, denn unter der Bürgerwehr war nicht ein Einziger, der Soldat gewesen wäre.

Für das Bürgerwehr-Bataillon von Stadtoldendorf hatten Frauen und Jungfrauen der Stadt eine Fahne gestickt, die feierlich übergeben und sogar von dem Superintendenten Hartmann eingeweiht wurde.

Zu dieser Fahnenweihe, für welche zufällig vor der Thür meines Wohnhauses eine Art Tribüne erbaut worden war, mußte auch ich mich als Bürgerwehrmann nolens volens anschließen.

Ich zog Civilkleider an und nahme eine Lanze, womit ich neben dem Oberförster v.Schwarzkoppen, der sich ebenfalls mit einer solchen bewaffnete, in's zweite Glied trat, während das erste Glied mit alten Steinschloßgewehren, die aus dem Zeughause zu Braunschweig geliefert worden, bewaffnet waren.

Mit dieser Fahnenweihe war nun noch ein sogenanntes Verbrüderungsfest arrangirt, wozu aus den umliegenden Ortschaften, ja selbst aus Holzminden Bürgerwehren eingetroffen waren.

Als nun außerhalb der Stadt die geweihete Fahne auch noch beschossen wurde, standen vor mir und p. v. Schwarzkoppen im ersten Gliede der Kaufmann Rothschild und 1 Schneider.

Beim Abfeuern des Gewehrs ging die Ladung des Rothschildschen statt aus der Mündung aus dem Zündloche, welches stark ausgebrannt war, und so seinem Nebenmanne, dem Schneider in den sehr gepflegten Vollbart, sodaß derselbe in hellen Flammen aufloderte.

Das war für v. Schwarzkoppen und für mich, das Zeichen zum Entfernen aus der unheimlichen Nähe, wo man Leuten Schußwaffen, die noch ohnehin sehr defekt waren in die Hand gegeben hatte, mit denen sie nicht umzugehen verstanden.

Wir steckten die Spitzen unserer Lanzen in die Erde, wo wir standen und drückten uns.

Das war das erste und das letzte Mal, wo ich mit der Bürgerwehr ausgezogen bin.

Es war bei der Zusammensetzung dieser Bürgerwehren zu erwarten, daß, wenn irgendwelcher Spektakel eintreten sollte, dies nun durch dieselben, die dergleichen doch verhindern sollten, hervorgerufen werde.

Es wurden nun fleißig Exercir-Übungen und Übungsmärsche vorgenommen; die einzelnen Kompagnien sammelten sich vor den Wohnungen der Hauptleute, zu welchen solche Einwohner gewählt worden waren, die neben ihrem kaufmännischen Geschäfte auch Branntwein-Schank betrieben.

War nun die Kompagnie angetreten, dann regalirte der Hauptmann jeden in Reihe und Glied stehenden Bürgerwehrmann mit einem Schnapse.

Neben meiner Wohnung an, wohnte der Hauptmann Kaufmann Thiele, der regelmäßig eigenhändig die Schnäpse austheilte.

Nach und nach mochte ihm diese Spende doch etwas zu hoch kommen, sodaß er ein kleineres Glas als bisher wählte.

Das schien nun den braven Bürgerwehrmännern nicht, sie thaten Einspruch und da das nicht half so beschlossen sie einen andern zum Hauptmann zu wählen, der ein größeres Glas Schnaps spendire.

So waren die edlen Vaterlandsvertheidiger beschaffen.

Nach den Märztagen in Berlin waren wir Preussische Beamte ganz darunten durch, man hätte uns gar zu gern aus dem Lande hinausgejagt, man verlangte freien Verkehr mit dem Auslande, überfiel die Zoll- und Steuerämter, jagte in Seesen u. in Gandersheim die Beamten fort, und der Schmuggel nahm einen argen Aufschwung.

Ich ließ jedoch nicht nach, die Grenze und den Bezirk nach wie vor strenge zu überwachen, sodaß noch immer Beschläge gemacht wurden, leider aber waren die oberen Behörden so eingeschüchtert, daß es gar nicht gern gesehen wurde, wenn Beschlagnahmen erfolgten.

Namentlich war der Ober-Zoll-Insp. v. Schmidt-Physeldeck zu Holzminden so ängstlich, daß er mir durch Ordonanz einen Brief zusandte, in dem er mir empfahl nicht zu strenge zu verfahren, und ein Auge zuzudrücken, bis andere Zeiten kommen würden.

Ich mußte auf meinen Diensttouren manche Schimpfreden, die hinter mir hergerufen wurden, anhören und vielfache Drohungen wurden ausgestoßen, allein es wagte doch Niemand mir zu nahe zu kommen.

In meinem Bezirke war es, ungeachtet ich nach wie vor den Dienst ausführte und ausführen ließ, zu erheblichen Unruhen nicht gekommen, doch nun wurde auch von Außen gehetzt und agitirt, und die Einwohner wegen ihrer Lauheit verhöhnt.

Da hörte ich dann, daß die Bewohner des Dorfes Heinade, unter Beihilfe der Bewohner des Dorfes Deensen, damit umgingen das Zollamt zu Merxhausen, welches unmittelbar an der hannov. Grenze dem hannöverschen Dorfe Mackensen in einer Entfernung von ungefähr ¼ Stunde gegenüber lag, zu überfallen, die Kasse zu rauben und den Einnehmer, einen braunschweigischen Beamten Namens Hartmann, der dem Publikum gegenüber sich oft schroff und ungefällig gezeigt, zu mißhandeln.

Auch die Einwohner des Dorfes Merxhausen waren sehr aufgeregt, und es konnte wohl angenommen werden, daß dieselben sich dem Überfalle anschließen würden.

Nachdem ich angeordnet hatte, daß unausgesetzt und mit Ablösung zwei Aufseher im Kassenlokale des Zollamtes Wache hielten, um dem Einnehmer und seiner Familie im vorkommenden Falle Beistand zu leisten und überdies angeordnet hatte, daß in der Richtung nach Heinade, was etwa ½ Stunde von Merxhausen entfernt lag durch Patrouillen beobachtet werde, ob und wann der Überfall stattfinden werde, begab ich mich zum Ortvorsteher von Heinade [Merxhausen?], der ein verständiger und ruhiger Mann war, theilte ihm mit, was im Werke sein, und wovon er auch schon war unterrichtet worden, suchte ihm klar zu machen, daß für die Gemeinde Merxhausen sehr übele Folgen daraus entstehen würden, wenn Staatseigenthum zerstört und Beamte sollten mißhandelt werden.

Ich sagte ihm, daß meine Beamte instruirt seien, von der Schußwaffe Gebrauch zu machen, sofern sie in dem Schutze des Staatseigenthums, sowie des Privateigenthums und der Person des Einnehmers angegriffen würden, und daß die Gemeinde Merxhausen demnächst für den angerichteten Schaden aufkommen müsse, wenn derselbe auch von Fremden angerichtet und kein Einwohner des Dorfes beteiligt gewesen sei.

Ich sagte ihm, daß es hiernach die Pflicht der Eingesessenen und ihr eigener Vortheil sei, wenn sie sich dem geplanten Überfalle nicht nur nicht anschlössen, sondern mit aller Macht zu verhindern suchten.

Das schien ihm einzuleuchten.

Er ließ sogleich einige der einflußreichsten und vernünftigsten Besitzer herbeirufen, und diesen setzte ich die Sachlage ebenfalls gründlich auseinander.

So wurde nun verabredet, daß sofern etwaige Ruhestörer aus Heinade und Deensen anrücken möchten, die ganze männliche Bevölkerung mit Knitteln pp versehen, sich vor dem Gehöfte des Vorstehers, der das Zeichen dazu geben lassen werde, versammeln sollte, um jeden Unfug zu verhindern.

Und so geschah es.

Als nun eines Tages ein Haufen von 50-60 Personen, Männer und auch Weiber, mit alten Gewehren, Heugabeln und Knitteln versehen gegen Merxhausen heranzogen, wurde der Ortsvorsteher von den von mir zur Beobachtung aufgestellten Aufsehern davon in Kenntniß gesetzt.

Dieser berief nun sofort die Einwohner und Knechte, wie es vorher besprochen war, bewaffnet mit Knitteln und Heugabeln auf den Sammelplatz bei seinem Gehöft, das am Eingange des Dorfes belegen war.

Als nun die Bande unter Führung des Ortsvorstehers von Heinade im Dorfe eintraf, hoffte dieselbe von den versammelten Merxhausern in ihrem Vorhaben unterstützt zu werden und begrüßte sie mit einem lauten Hurrah!

Allein sie wurden bald eines andern belehrt, indem der Vorsteher von Merxhausen ihnen erklärte, daß in seinem Dorfe ein Unfug von andern Ortsbewohnern nicht geduldet werden würde, und daß es besser sei, wenn sie dahin zurückkehrten, woher sie gekommen seien.

Da war nun aber das Volk aber schon zu sehr erregt, indeß sie ließen sich doch bestimmen, von dem Überfall des Zollamts, auf den es doch vornehmlich abgesehen war, Abstand zu nehmen.

Sie schlugen einen Seitenweg ein, um an die Grenzlinie zu gelangen, und wollten auf diesem Wege das Haus des Kaufmanns Rothschild überfallen, wurden aber durch die Merxhausener daran verhindert.

Nun zog der Trupp um das Dorf herum an die Grenzlinie und riß hier die dort an der Zollstraße befindliche Zolltafel um.

Bei der Rückkehr zogen sie nun der Zollstraße entlang, durch das Dorf und so auch vor das Zollhaus, wo halt gemacht wurde und geschimpft und gedroht auch endlich von einem Kerl aus dem Haufen ein Stein an die am Gebäude befestigte Zolltafel geworfen wurde.

Dies gab nun für die Merxhauser die sich vor dem Zollhause bereits aufgestellt hatten und in der Übermacht waren, das Signal die Eindringlinge mit wuchtigen Hieben aus dem Dorfe hinauszutreiben.

Mir wurde alsbald von dem Vorfalle Mittheilung gemacht und so ritt ich dann am nächsten Tage in Begleitung von 2 beritt. Aufsehern nach Merxhausen, das nur 1½ Stunden von meiner Station entfernt war, u. stellte fest, was da vorgefallen war.

Ich machte davon zunächst dem Justizamtmann Paulsen mündlich die dienstliche Anzeige, und trug auf Einleitung einer Untersuchung an.

Allein das wies p. Paulsen, der den Ortsvorsteher von Heinade nicht in Ungelegenheit bringen wollte, von der Hand, und meinte er wolle veranlassen, daß die Zolltafel an der Grenze alsbald wieder aufgestellt werde, und damit sei in dieser aufgeregten Zeit genug gethan.

Ich berichtete nun weiter an das Haupt-Zollamt zu Holzminden, aber auch zugleich an den Vereinsbevollmächtigten, Regierungsrath v. Kamptz zu Braunschweig, und gab zu erwägen, daß wenn nicht unverzüglich eingeschritten würde, später dergleichen Überfälle in verschiedenen Stellen sich sicherlich wiederholen würden, und, wie anzunehmen sei, nicht so günstig verlaufen möchten.

Das half dann auch, und so erschien dann unerwartet eine Untersuchungs-Commission des Obergerichts zu Holzminden, die sich in Heinade einlogirte.

Das Result war, daß eine große Zahl der Betheiligten darunter vornehmlich der Ortsvorsteher zu Heinade zu langen Haftstrafen und in die Kosten der Untersuchung verurtheilt wurden."

 

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[1] LOHMANN/GECK 2009 – dankenswerterweise überlassener 13seitiger Auszug aus den Lebenserinnerungen des Justus Heinrich Wilhelm Lohmann.