Historisches Glas - Technik und Rohstoffe

Klaus A.E. Weber

 

Gab es genügend Rohstoffe, so gab es auch Glas - wie in der Solling-Region

Eingebettet in eine reiche europäische Glasgeschichte kann man im Solling auf eine Jahrhunderte währende Glasgeschichte zurückblicken - frühmittelalterlich seit der Karolinger Zeit im 9. Jahrhundert.

Soweit bekannt, konnten im südniedersächsischen Berg- und Hügelland bereits im Mittelalter unterschiedliche regionale Rohstoffwirtschaften exportorientiert betrieben werden, wie beispielsweise Glas.

So bildeten dereinst Glashüttenanlagen im Weser-Werrra-Bergland „das gläserne Herz Niedersachsens“.[26]

Nachweislich wurden in den dicht bewaldeten Mittelgebirgen von Solling, Vogler, Homburgwald und Hils seit dem Mittelalter (ab dem 12. Jahrhundert) Glas erzeugt und verarbeitet.[27][23]

Dabei konnten zahlreiche Glashüttenstandorte des 12.-14./15. Jahrhunderts dokumentiert werden.

Während des 16./17. Jahrhunderts erreichte das Glasmacherhandwerk hier seine Blütezeit.

Nach TACKE [49] wurden im 16. Jahrhundert unter Herzog Julius von Braunschweig-Lüneburg (1528-1589) zeitweilig zahlreiche Wanderglashütten landesherrlich gefördert, "nur weil die ausgedehnten Wälder sonst überhaupt keiner gewerblichen Nutzung unterlagen und 'gar wenig eintrugen'".

Hergestellt wurden prunkvolle Gläser für den Adel und wohlhabende Bürger, Gebrauchsglas für Haushalte und Spezialgläser für Alchemisten und Apotheker.

Nach KOCH [35] gelten aber die neuzeitlichen niedersächsischen Glashüttenplätze als archäologisch noch wenig erforscht.

 

Historisches Glas - Herstellung und Verarbeitung

Gemenge, Dosierung und Temperatur entscheiden

Historisch ist eine zweigeteilte glastechnische Produktionsweise prinzipiell zu unterscheiden:

  • Glasherstellung / Rohglaserzeugung

  • Glasverarbeitung.

SIEBE skizziert in dem DBU-Forschungsbericht [1] von 2018 anschaulich die chemo-physikalischen Eigenschaften von Glas:

Glas kann als eine „unterkühlte Schmelze“ bezeichnet werden, da „die geschmolzene Glasmasse beim Abkühlen nicht in einen kristallinen Zustand übergeht“ und sich die Atome der Molekularstruktur „nur im Nahbereich“ ordnen.

Der überwiegende Anteil hingegen „bildet eine amorphe, nicht kristalline feste Substanz“.

Zu diesen begrenzt kristallinen Gebilden zählen die Siliziumoxid (SiO₄)⁴-Tetraeder“ in welchen jeweils vier Sauerstoffatome ein Siliciumatom umgeben - Si-O-Si-Bindung mit der chemischen Formel SiO₂.

Die Verknüpfung mit weiteren Siliziumoxid-Tetraedern bildet das grundlegende Strukturmuster der Glasnetzwerke von Gläsern.

In dieser reinen Form sprechen wir von Quarz, dass mit einer Schmelztemperatur von 1707° C in mittelalterlichen Glashütten so nicht zu schmelzen gewesen wäre.“

Wurden der Glasschmelze Netzwerkwandler bzw. Flussmittel wie

  • Alkali-Elemente Natrium (Na) und Kalium (K)

  • Erdkali-Elemente Calcium (Ca) und Magnesium (Mg)

  • Blei (Pb)

zugegeben, so konnte die hohe Schmelztemperatur herabgesetzt werden.

Indem jene Netzwerkwandler bzw. Flussmittel in die molekulare Struktur der Glasnetzwerke eingebaut werden, „wird das regelmäßige SiO₂-Gitter aufgebrochen und kleinräumig begrenzt.“

Die dadurch hervorgerufenen unterschiedlichen Ordnungsgrade der Atome im Nah- und Fernbereich führen dazu, dass Gläser einen Erweichungsbereich und keinen definierten Schmelzpunkt haben, wie es bei kristallinen Verbindungen der Fall ist.“

Dadurch ist es erst möglich, dass „die heiße zähe Glasmasse mit der Glasmacherpfeife bearbeitet werden kann.“

 

Temperatur [2]

  • ca. 560 -580° C - Erweichungstemperatur

  • ab ca. 850° C - zähflüssiges Glasgemeinge

  • 1.000 - 1.400° C - Schmelzpunkt, in Abhängigkeit der Wahl und Menge des Flussmittelzusatzes

 

Primärstoffe des „Glas-Cocktails“

GLAS:Grundstoffe

 

Quarzsand - eigentlicher „Glasbildner“

Quarz

chem.: Siliziumdioxid (SiO2)

  • vornehmlich helle, reine, eisenarme und silikatreiche tertiäre Sande und Kieselerde (veraltet) bzw. Kiesel (Kieselsäure) als eigentlicher „Glasbildner“

  • Schmelztemperatur: 1.713° C

 

Tertiärer Sand

"Sandwäsche" nördlich von Neuhaus

im Solling

© [hmh, Foto: Klaus A.E. Weber

 

Der wichtigste Rohstoff zur Glasproduktion ist der reine, weiße Quarzsand [17].

Diesen schöpften die Glasmacher aus Bächen und Böden, weshalb sie insbesondere Bundsandsteingebiete, wie den Solling, bevorzugten.[25]

Die Glashütten des Sollings bezogen den notwendigen silikatreichen Sand von dem altbekannten Sandvorkommen am Langenberg im Solling („Sandwäsche“ bei Neuhaus) oder in Lenne.

 

Alkalioxide (Alkali) - Netzwerkwandler/Flussmittel

Alkalioxide als Netzwerkwandler und Flussmittel waren bis in die Neuzeit hinein zur Senkung der Schmelztemperatur von Quarzsand auf etwa 1.200-1.300° C erforderlich.

Zum Vergleich: Die Temperatur im Brennraum eines mittelalterlichen Töpferofens wird mit 1.200-1.250° C angegeben, eine Brenntemperatur, welche die Befeuerung eines Siegburger Steinzeug-Töpferofens gestattete.[7]

Die Tradition der Glasherstellung mit dem Flussmittel Trona war in Südeuropa vom 9. bis 13. Jahrhundert bekannt, hier gab es ein nahezu gleichwertiges Nebeneinander von ägyptischer Trona und Soda-Asche, die aus salzhaltigen Pflanzen gewonnen wurde.“[3][4]

Maßgeblich bestimmten die verwendeten Flussmittel die recht unterschiedlichen Eigenschaften der verschiedenen Arten von Glas.[18]

Hauptsächlich der bei der Glasherstellung erforderliche Alkalizusatz in Form von Buchenholzasche bzw. später von Pottasche, aber auch der hohe Holzverbrauch zur Ofenfeuerung, führte schließlich zu großen Verwüstungen im Holzbestand der Wälder in den Mittelgebirgen.

 

Natriumglas = Natronglas

Natron

  • Natriumhydrogencarbonat - NaHCO3

In antiker Zeit wurde als Flussmittel der Glasschmelze ab dem 6. Jahrhundert v. Chr. hauptsächlich das in Ägypten natürlich vorkommende mineralische Trona (Natriumhydrogencarbonat), ein Salzgestein, gewonnen und exportiert.[1][12]

Hauptbezugsquellen waren vorwiegend in Ägypten die Ufer des Salzsees Wadi El-Natrun (südlich von Alexandria).

Die herausragende Qualität der Rohstoffes Trona als Flussmittel war offenbar so entscheidend, „dass extrem lange Lieferwege von Ägypten bis auf das europäische Festland in Kauf genommen wurden."[3]

Im Mittleren Osten wurde seit über 4.000 Jahren die sodahaltige Asche von Meeres- und Wüstenpflanzen bzw. von Strandpflanzen an Meeresküsten (Halophyten) verwendet, da sie eine sehr ähnliche Zusammensetzung und einen sehr hohen Anteil von Natriumcarbonat aufweist.[1][9]

Auch konnte Holz- und Farnasche als Natronquelle genutzt werden.[12]

 

Mediterranes Glas (Sodaglas)

Soda [10][17]

  • in antiker Tradition Natriumcarbonat (Na2CO3), wie in Italien (Venedig-Murano)

Im Allgemeinen zählen die antiken römischen Soda-Kalk-Gläser zu den beständigsten historischen Glasprodukten.

Ihre Zusammensetzung blieb bis in die Spätantike nahezu konstant und entspricht in etwa der Zusammensetzung heutiger Gebrauchsgläser.“[6]

Durch Erhitzen konnte aus Trona das Natriumcarbonat haltige Soda gewonnen werden.

  • Sodazusätze bei frühen ägyptischen, syrischen und venezianischen Gläsern [2]

  • fremder, unbekannter und geheimnisvoller Stoff für die Glasmacher in den deutschen Mittelgebirgen bis in das 19. Jahrhundert

  • insbesondere unentbehrlicher Gemengebestandteil bei der Flachglasherstellung

a) mineralische Form aus Auswitterungen

b) Pflanzenasche von Mittelmeerküsten („Pflanzensoda“)

Soda-Asche als Importware aus der Weiterverarbeitung von Pflanzenasche:

  • Vorderer Orient: syrisches, ägyptisches Soda

  • spanisches Soda

  • sizilianisches Soda

  • französisches Soda

  • englisches Soda

c) seit der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts: technisch produziertes, vollsynthetisches Natriumkarbonat (Na2CO3)

 

Transalpines Glas

Kaliumglas = Holzascheglas

im Prinzip neuartige Glasrezeptur ohne Soda

  • zunächst Holzasche der mitteleuropäischen Pflanzenarten Buche, Eiche und Farn - im Wesentlichen aber Buchen-Holzasche

  • später ausgelaugte Holzasche als Pottasche [24] und Soda

  • mittelalterliche europäische, binnenländische Gläser mit Kalizusätzen [14]

Zunächst zählten frühmittelalterliche Gläser noch zum Soda-Kalk-Typ, im Vergleich zum römischen Glas aber mit deutlich höheren Eisenanteilen.[6]

Ab dem 8. Jahrhundert kam es in der Karolingerzeit zu deutlich veränderter Glasqualität, denn europäische Glasmacher implementierten aus unterschiedlichen Gründen die Herstellung von Holzasche-Gläsern (Waldgläser), indem Holzasche vornehmlich von Buchen oder seltener Farn-Asche an Stelle von Soda oder Salzpflanzenasche genutzt wurde.[1][6][8]

So weist Holzasche einen relativ hohen Anteil von Kalium (Kaliumoxid, K₂O) auf, da es als Flussmittel in der Glasschmelze beigegeben wurde.

Erst spätmittelalterliche Gläser zeigen wieder einen besseren Erhaltungszustand, was durch gezielte Aufwertung der Rohstoffe erreicht wird, u. a. Aufbereitung der Holz- zu Pottasche und Zugabe von Calcium.“[6]

Das eingesetzte Extraktionsprodukt „Pottasche“ enthielt Kaliumcarbonat (K2CO3) als Flussmittel, was später zu einem "signifikant schlechteren Erhaltungszustand" führen sollte.[6][17]

Hauptsächlich der bei der Glasherstellung erforderliche Alkalizusatz in Form von zunächst Buchenholzasche bzw. später von Pottasche, aber auch der hohe Holzverbrauch zur Ofenfeuerung, führte schließlich zu großen Verwüstungen im Holzbestand der Wälder in den Mittelgebirgen (Devastierung).

Später, in der frühen Neuzeit, wurde wieder Soda (Natriumcarbonat) als Flussmittel eingesetzt.

 

Kalk - Stabilisator des molekularen Glas-Netzwerkes

Im späten Mittelalter veränderten europäische Glasmacher ihre Glasrezeptur.

So wurde etwa seit Ende des 17. Jahrhunderts der Glasschmelze zur Glasfestigkeit gezielt Kalk (Calcium) als „Stabilisator“ bzw. „Härter“ beimischt, ein Nebenbestandteil in der (Buchen-)Holzasche.

Durch den Zusatz von Calciumoxyd (CaO) bzw. Calziumcarbonat (CaCO3) in der Glasschmelze konnte die Wasserlöslichkeit der Alkaligläser erheblich gehemmt werden.[1]

Bereits in der Antike wurde gegen die "Auslaugung" der Glasschmelze Kalk aus Muscheln beigegeben.

 

© [hmh, Foto: Klaus A.E. Weber

 

Da durch die reduzierte Zugabe von Holzasche der Anteil an Kaliumoxid sank, wurde oft Natrium kompensiert zugesetzt.

Der analytische „Nachweis von Chlor lässt den Schluss zu, dass in diesen Fällen gezielt Natriumchlorid, also Kochsalz, der Glasschmelze beigemischt wurde“.[1]

 

Sekundärstoffe

Neben den zuvor genannten Primärstoffen finden auch weitere Gemengezusätze bei der Glasgewinnung variable Verwendung.

 

Bruchglas

Zusatz von Bruchglas als Sekundärrohstoff

Um im Schmelzprozess Rohstoffe und Energie zu sparen, wurden - wie in heutiger industrieller Glasproduktion - auch fehlerhafte Gläser und "Altglasscherben", teils auch als Importwaren eingesetzt (komplettes Recycling).

Daher ist ein frühneuzeitlich intensiv genutztes „Glasrecycling“ bei hohem Materialwert zu vermuten.

 

Tonerde (Aluminiumoxid)

meist in Form von Feldspat [6]

 

Bleioxid

Auch konnte aus Blei (Pb) gewonnenes Bleioxid (PbO) die Funktion als Flussmittel und "Stabilisator" übernehmen, zudem gab es ein überaus glänzendes Glas.[17]

 

Glaubersalz

Natriumsulfat (Na2SO4) [5][16]

Synthetisch hergestelltes Natriumsulfat - z.B. Glaubersalzherstellung in örtlichen Salinenbetrieben

 

Historische Gemengekammer

Glashütte Gernheim LWL-Industriemuseum

© [hmh, Foto: Klaus A.E. Weber

 

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[1] Sören Siebe, Labor der Otto-Friedrich-Universität Bamberg, in DBU 2018, S. 158-159.

[2] ALMELING 2006, S. 122.

[3] DBU 2018, S. 187.

[4] WEDEPOHL 2003, S. 13.

[5] VOHN-FORTAGNE 2016, S. 182.

[6] DBU 2018, S. 199.

[7] ROEHMER 2022, S. 16-17.

[8] JENISCH/RÖBER/SCHESCHKEWITZ 2022, S. 13.

[9] ZIMMERMANN 2022, S. 201.

[10] LOIBL 1996, S. 157-199.

[12] in ALTHAUS 2015, S. 17.

[14] TRIER/NAUMANN-STECKNER 2016, S. 25.

[16] LOIBL 1996, S. 185-186.

[17] BLÜBAUM/FISCHER 2011, S. 13.

[18] BLÜBAUM/FISCHER 2011, S. 15.[23] kretisches Harzkraut │ Salzblume │ im südlichen Europa und im Orient am Ufer des Mittelmeeres wachsende kleine Staude.

[23] LEIBER 1994, S. 36 f.

[25] FROMMER/KOTTMANN 2004, S. 33 ff.; KRUEGER 2003, S. 45; LEIBER 1994, S. 18.

[26] Christian Leiber, Vortragstitel vom 25. März 2004 in Hellental.

[27] LEIBER 2004.

[35] KOCH 1995.

[49] TACKE 1943, S. 160.