Das Hellental - im Solling

 

In seinem letzten Lebensjahr, 1914, veröffentlichte Hermann Löns (1866-1914) in seinem Niedersächsischen Skizzenbuch den Aufsatz „Das Hellental”.

 

© [hmh, Fotos: Klaus A.E. Weber

 

Das Hellental [1][2]

Am Eingange des grünen Sollings oben auf dem Mittelberge liegt das Silberborner Moor.

Weit zieht es sich dahin zwischen heiteren Buchenwäldern und ernsten Tannenforsten.

Aus seinen tiefen Torfmoorpolstern, über denen die weißen Wollgrasflocken nicken, rinnen viele Wässerchen heraus.

Ein Teil davon findet sich unter dem Mittelberge zu einem lustigen Bächlein zusammen, das strudelnd und sprudelnd, als habe es Großes im Sinne, durch die blumigen Wiesen rieselt, aber schon nach ganz kurzem Laufe auf einmal in der Erde verschwindet und erst eine Stunde später bei Merxhausen wieder zutage tritt.

Ein Viertelstündchen unterhalb der Stelle, an der das namenlose Wässerlein versinkt, kommt ein quicker Quell mit lautem Gepolter aus dem grünen Grunde, wird zu einem frischen Bache, verschwindet aber auch bald in der Tiefe und wird erst weiterhin wieder sichtbar.

Das Tal, in dem diese beiden launenhaften Bäche, der sauere und der süße, teils über, teils unter der Erde entlang rinnen, hat von alters her den Namen Hellental.

In seinem Grunde, neben dem sich ein hellroter Fahrweg entlang zieht, läuft die Grenze zwischen Braunschweig und Hannover entlang, und es ist so schmal, daß die Hirsche, die hüben und drüben hinter den Gattern stehen und sich im Herbste wütend anschreien, einander wittern können, wenn der Wind danach ist.

Dort, wo das Tal sich ein wenig ausweitet und die Wälder vor den Wiesen und Äckern etwas mehr zurücktreten, liegt an der Braunschweiger Seite in einem steilen, ganz engen Quertale ein Dörfchen, das sich von dem Haupttale den Namen geliehen hat, so versteckt, daß immer nur, sei es von hier oder da, ein Teil der hellen, mit roten Sandsteinplatten gedeckten Fachwerkhäuser sichtbar sind.

Es ist kein alter Ort, das Dörfchen Hellental, obschon Ziegeltrümmer, die sich im Bachtale finden, darauf hindeuten, daß lange vor dem Jahre 1728, als hier eine Glashütte gegründet wurde, eine Siedlung bestanden hat.

Die Glashütte wurde bald schon nach Schorborn verlegt, und ein Teil der Arbeiter zog ihr nach.

Andere aber hatten das Tal lieb gewonnen, und konnten von ihren Wiesen und Äckern nicht lassen.

So blieben einige Familien dort hängen, die Timmermans, Eikenbergs, Gehrmanns und Roloffs, deren Namen sich an den Türfenstern immer wiederholen; auch kamen nach und nach Neusiedler hinzu, und also entstand das Dorf.

Es sind bis auf den Lehrer und die Gastwirte alles Waldarbeiter, die Hellentaler, wenn auch dieser oder jener nebenbei einen kleinen Handel hat oder ein anderes Gewerbe betreibt, oder, hört die Forstarbeit auf, als Wegebauer, Ziegler oder Köhler anderswo sein Brot sucht.

Sie haben kein leichtes Leben, die Männer und Jünglinge von Hellental, und Frauen und Mädchen erst recht nicht; denn hart ist die Arbeit im Forste bei Wind und Wetter, weit sind die Wege, mager und steinig ist der Boden der steilen Wiesen und schmalen Ackerstücke, die den Flanken der beiden Täler mühsam ab gewonnen sind.

Später als nach Merxhausen, Mackensen und Dassel kommt der Frühling in das Hellental, länger als unten im Lande hält der Winter sich dort auf, und wenn weiterhin schon die Äcker grünen und die Wiesen blühen, rührt sich im Hellentale kaum das Gras, und spärlich kommt erst die Saat.

Aber auch dann noch droht die Gefahr von den Nachtfrösten, und wenn ein schweres Wetter heruntergeht, wäscht das Wasser roten Steinschlamm auf die Wiesen und spült trotz der Hecken und Mauern die Ackerkrume von dannen.

Trotzdem gibt es weit und breit kaum ein fröhlicheres Volk als das von Hellental.

Mag das daran liegen, daß, wie man sagt, viel fränkisches Blut in ihren Adern hüpft, oder daran, daß ihre Hauptarbeit sich im grünen Walde und zwischen Berg und Tal abspielt, sie singen ebenso gern wie die Finken und die Drosseln zur Frühlingszeit.

Und nicht nur die jungen Mädchen singen, wenn sie, den Rucksack auf dem Rücken, truppweise leichten Schrittes aus dem Holze kommen, wo sie den ganzen Tag über gebückt auf den Kulturen arbeiten, mit heller Stimme ihre schönen alten lustigen oder wehmütigen Lieder, daß das ganze Tal erklingt, auch die Jungmannschaft liebt den Gesang und die ältern Leute nicht minder, und so gut singt Jung und Alt, und so schöne Stimmen haben die Hellentaler, daß der, wer sie einmal singen hörte, es sein Leben lang nicht vergißt.

Es steckt überhaupt viel Freude an alledem, was außerhalb des Lebens Not und Sorge liegt, in den Leuten.

Sie lesen viel lieber, als es sonst dort üblich ist, wo die Arbeit hart und der Verdienst karg ist, sie hören gern von alten Zeiten erzählen, von Märchen und Sagen und von den Tagen, da die Hirsche und Sauen noch nicht hinter den Gattern standen, sondern Nacht für Nacht in der Feldmark zu Schaden gingen und wo der Freischütz der Held des Dorfes war.

Von dem heutigen Geschlechts wildert kaum einer mehr; aber gern lauschen alle, wenn einer von den Männern, die jetzt hinter dem Herde sitzen, von jenen Zeiten erzählt, da so mancher Hirsch bei Nacht und Nebel nach Dassel gefahren wurde, und der alte einläufige Vorderlader, die Forke genannt, der noch im Dorfe vorhanden ist, und von dem allerlei Geschichten erzählt werden, läßt die Augen aufleuchten, wird er einmal wieder hervor gelangt und herum gezeigt.

Die Zeiten sind vorbei, und das ist gut.

Sie waren böse.

Mehr als ein Schuß wurde damals auf Menschen abgegeben, und mehr als einer traf nur zu gut.

Das heiße Geblüt, das in dem Volke steckt, setzt sich heute in ehrliche Arbeit und harmlose Lebenslust um, und seitdem der Schnaps bei dem jungen Volke aus der Mode gekommen ist, geht es bei den Festen immer noch froh und heiter, aber nicht mehr so wild her wie früher, wo kein Tanz ohne Schlägerei ausging, und jahrzehntelanger Haß und Unfrieden nachblieb.

Sie sagen selber, daß sie abseits der Welt liegen, die Hellentaler; aber sie haben sich darein gefunden und stehen sich gut dabei.

Sie haben ihre Arbeit, das bunte Tal und den grünen Wald, ihre Lieder und ihre Freude an all dem, was singt und klingt und blüht und grünt.

Und der Frohsinn, der in ihren Augen ist, macht auch die wenigen Sollingfahrer froh, die sich in das kleine Dorf über dem stillen Tal verirren, und die herzlicher aufgenommen und freundlicher begrüßt werden als anderswo, wo Tag für Tag Bergfahrerschwärme durchziehen, Räder klingeln und Kraftwagen brüllen.

Daran fehlt es hier fast ganz, und das ist dem eine Labung, der weiter nichts will, rettet er sich aus der großen Stadt, als reine Luft und Waldesruhe, BIumenpracht und Vogelsang und Menschen, die ihm freundlich zunicken, trifft er sie auf seinem Gang.

 

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[1] LÖNS, HERMANN: Das Hellental. In: Mein niedersächsisches Skizzenbuch. Hannover Sponholtz 1924.

[2] LESSMANN 1984, S. 78-81.