6.-15. Jahrhundert
Klaus A.E. Weber
Epoche einer hochentwickelten Glaskunst im Mittelalter
Die hochstehende mittelalterliche Glaskunst im islamischen Kulturkreis war beim Formenreichtum wie bei der Vielfalt der Veredelungstechniken der antiken römischen Glaskunst ebenbürtig.
Glasbecher mit Schlaufenfadendekor zählen zu den besten Leistungen des hoch-mittelalterlichen Glasmacherhandwerks.
Hochwertig dekorierte Gefäße des 13./14.Jahrhunderts aus syrischen Zentren waren ein wesentlicher Anknüpfungspunkt für die westliche Glaskultur in Europa, wobei Venedig als führende mediterrane Handelsmacht das Erbe der syrischen Glaskunst antrat.
Unterlag in Italien und in den Ländern nördlich der Alpen die Glasgestaltung des 13. Jahrhunderts zunächst noch islamischen Einflüssen, so entwickelte sich mit einem technologischen Wandel hier eine eigene, bodenständige Glaskunst.
Dabei wandelten sich Glasgefäße zunehmend vom Luxusgut zur Gebrauchsware des täglichen Lebens.
Meist in Waldgebieten deutscher Mittelgebirge hergestelltes Waldglas war gekennzeichnet durch kräftige Grüntönen, eine gebrauchstüchtige Wandungsstärke und kräftige Nuppen für einen sicheren Griff beim Trinken.
Im frühen Mittelalter waren Glasgefäße ausgesprochene Luxusartikel.
Fränkische Glashütten der Merowinger Zeit führten die spätantiken römischen Formen- und Handwerkstraditionen weiter – mit reduziertem Formenspektrum und eher einfachen, qualitätsgeminderten Trinkgläsern.
- Sonderform: der ästhetisch wie technisch anspruchsvolle „Rüsselbecher“
Transalpin kam es im zu einem technologischen Wandel mit eigenständigem Glasmacherhandwerk:
-
Holzasche-Glas ⎸Holzasche-Kalk-Glas ⎸Blei-Silikat-Glas
- Kalium-betontes Glas in dezentralisierten Waldglashütten („Waldglas“) - Transalpines Glas aus Kaliumcarbonat (Pottasche) in Waldglashütten
Mit dem Niedergang des Römischen Reiches begann vermutlich ein allmähliches Absinken der Glaskunst, welches etwa im 8. Jahrhundert den Tiefstand erreicht haben soll.
Im Mittelalter der Romanik erlebte Glas eine erneute Blütezeit mit den Glasherstellungszentren der Klöster.
Diese fertigten auch das Flachglas für die prächtig gestalteten Kirchenfenster.
Während des 12. und 13. Jahrhunderts entstanden in den waldreichen Gebieten neben den Kloster-Glashütten auch erste Waldglashütten.
Vom 9.–12. Jahrhundert war die Glaserzeugung fast ausnahmslos an die Klöster gebunden, die über die technologischen Glaskenntnisse der späten Antike verfügten.
In klösterlichen Werkstätten wurde unter anderem Flachglas für Kirchenfenster hergestellt.
Auch in mittelalterlichen Reichen im afrikanischen Kulturraum Nordnigerias finden sich Nachweise von Glasobjekten (farbige Glasperlen).[1]
∎ Fränkischer Rüsselbecher
"Merowinger-Trinkbecher" │ 4.-7. Jahrhundert ⎸ Nachbildung
© [hmh, Foto: Klaus A.E. Weber
Glaskultur im Fränkischen Reich
5.-8. Jahrhundert n. Chr. ⎸ Merowingerzeit │ Grabbeigaben
Bei frühmittelalterlich abnehmendem Formenspektrum knüpft die Herstellung von Glaserzeugnisse im Fränkischen Reich an die bis in die spätrömische Zeit zurückreichende Formen- und Handwerkstradition an, hebt sich aber qualitativ in Form und Dekor von ihnen ab.
∎ Fränkischer Glockenbecher │ Nachbildung
Grünglas │ Scheibenfuß, Spiralfaden ⎸ 5.-6. Jahrhundert
∎ Fränkischer Sturzbecher │ Nachbildung
„Tanzglas“ │ Grünglas │ Rundboden ⎸ 6.-7. Jahrhundert ⎸ Rheinland
∎ Fränkischer konischer Trinkbecher │ Nachbildung
Merowinger „Wikinger-Becher“ │ Grünglas │ flache Fußplatte │ in vier vertikalen Schlingen aufgelegte Fäden │ zarter bläulicher Faden, der sich spiralig von der oberen Wandung zur Lippe hin windet │ 5.-6. Jahrhundert
∎ Fränkischer Trinkbecher │ Nachbildung
Streifendekor │ Grünglas │ 6. Jahrhundert
∎ Fränkischer „Birka-Becher“ │ Nachbildung
aufgesetzte Fäden in Form von Tulpenblättern ⎸ Grünglas │ 6.-7. Jahrhundert │ hergestellt in der Region Maas │ FO: Birka
Fränkischer Rüsselbecher
orientiert an spätrömischen „Delphin-Bechern“ │ 4.-6. Jahrhundert
hoher glockenförmiger Becher │ Grünglas │ Scheibenfuß │ aufwändigstes Dekor mit ausgezogenen hohlen „Rüsseln“, gekniffene Bänder bzw. horizontale Spiralfadenauflage
∎ Fränkischer Rüsselbecher │ Nachbildung
5./6. Jahrhundert
∎ Kleiner fränkischer Rüsselbecher │ Nachbildung
um 500 │ Köln
Glaskultur der Karolinger
8.-10. Jahrhundert n. Chr.
Während dieser frühmittelalterlichen Epoche der Karolinger war ein starker Rückgang der Hohlglasherstellung und des Hohlglasabsatzes zu verzeichnen, wofür der Klerus als kirchlicher Auftraggeber verantwortlich war.
Hohlglas durfte nicht (mehr) für sakrale Zwecke genutzt werden, denn im 9. Jahrhundert war nach einer Homili von Papst Leo IV. (~ 790-855) Glas als Werkstoff für Abendmahlskelche streng untersagt; nur Flachglas für (Kirchen-)Fenster durfte hergestellt werden.
Zudem verbot die Kirche ausdrücklich Grabbeigaben, worunter sich zuvor einst viele Hohlgläser befanden.
∎ Spitzbodiger karolingischer Trichterbecher │ Nachbildung
frühmittelalterlicher Sturzbecher aus einem königlichen Tafelgeschirr als Zeichen eines gehobenen Lebensstil │ hellgrünes Glas │ FO: Haithabu │ Nachbildung
Ausstellung hoch- und spätmittelalterlicher Gläser (Nachbildungen)
© Historisches Museum Hellental, Fotos: Mechthild Ziemer
Glas als „Herrschaftsware“
Stadt- und Klostergründungen führten in den Jahren um 1200 n. Chr. zu einem erhöhten Bedarf an verschiedenen Glaswaren.
Aus Glas gefertigte Trink-, Schenk- und Vorratsgefäße waren im Mittelalter kostbare Gegenstände des gehobenen Bedarfs und als Luxusartikel nur vermögenden Haushalten vorbehalten.
Becher
∎ Mittelalterliches Maigelein │ Nachbildung
Grünglas │ 15./16. Jahrhundert
∎ Mittelalterlicher Trinkbecher │ Nachbildung
Grünglas │ blaue und rote Fadenauflage │ 14. Jahrhundert │ Deutschland
∎ Mittelalterlicher Trinkbecher │ Nachbildung
Grünglas │ blaue Fadenauflage, kleine Nuppen │ um 1500
∎ Kleiner mittelalterlicher Becher │ Nachbildung
farbloses Glas │ leicht hoch gestochener Boden, Fußring │ mit einem spiralförmigen Faden belegt, der als Halsring endet und die sich weitende Mündung abtrennt │ 14. Jahrhundert
∎ Hochgotischer Becher │ Nachbildung
farbloses Glas │ blauer Standring, hochgestochener Boden, abwechselnd mit kleinen Nuppen und konzentrisch umgelegten blauen Fäden verziert │ 14. Jahrhundert │ Deutschland
∎ Kleiner mittelalterlicher Becher │ Nachbildung
farbloses Glas │ herausgekniffener Fußring
∎ Mittelalterlicher Nuppenbecher │ Nachbildung
Grünglas │ herausgekniffener Fußring │ spitze Nuppen │ Fadenauflage um den Hals │ um 1300
∎ Mittelalterliches Stangenglas mit Nuppen │ Nachbildung
schlanker Becher mit eingestochenem Boden │ 6 vertikale Reihen mit jeweils 5 Nuppen │ hohe Mündung, abgesetzt durch aufgelegten Halsfaden │ 15. Jahrhundert │ Böhmen
∎ Mittelalterlicher Nuppenbecher │ Nachbildung
Grünglas │herausgekniffener Fußring │ 15. Jahrhundert │ Böhmen
Krautstrunk
Die für die Gotik typische tonnenförmige, mit Nuppen verzierte Glasbecherform des Krautstrunks war als „böhmischer Becher“ im späten 15. und frühen 16. Jahrhundert weit verbreitetet.[6][7]
„Der überlieferte Name lässt sich auf die Ähnlichkeit des bauchigen Glaskörpers mit den aufgesetzten nach ober ausgezogenen Nuppen mit dem entblätterten Strunk eines Kohles zurückführen.“[6]
∎ Kleiner mittelalterlicher Krautstrunk │ Nachbildung
15./16. Jahrhundert │ Deutschland
∎ Breiter mittelalterlicher Krautstrunk │ Nachbildung
15./16. Jahrhundert │ Deutschland
∎ Mittelalterlicher Krautstrunk │ Nachbildung
glatte Nuppen │ 14. Jahrhundert │ Deutschland
Berkemeier (Berkemeyer, Berkemayer)
gilt als früher Römer
Nuppenbecher mit herausgekniffenem oder gewickeltem Standring │ Hohlschaft mit Reihen von nach oben gerichteten, spitzen Nuppen │ 15./16. Jahrhundert
∎ Großer mittelalterlicher Berkemeier │ Nachbildung
Grünglas │ 16. Jahrhundert │ Deutschland
∎ Mittelalterlicher Berkemeier │ Nachbildung
Grünglas │ 15. Jahrhundert │ Spessart
∎ Mittelalterlicher Berkemeier │ Nachbildung
mit glatten Nuppen │ Grünglas │ 15. Jahrhundert │ Deutschland
Keulen- und Stangengläser
∎ Großes Neunkant-Stangelglas │ Nachbildung
Bierbecher │ Grünglas │ um 1350 │ FO: Einbeck, Bruchsteinkloake
∎ Rundes Keulenglas │ Nachbildung
„gestippte“ Nuppen │ großer angesetzter Scheibenfuß │ 14./15. Jahrhundert │ Böhmen
Spechter - Spessartglas
Bei dem „Spechter“ handelt es sich in der Regel um ein typisches, mehr oder minder verziertes Trinkglas, dessen Entstehen dem Spessart zugeordnet wird, einem spätmittelalterlich und frühneuzeitlich besonders bedeutsamen Glaserzeugungsgebiet.
Formvariante Beschreibungen:
-
hohes zylindrisch geformtes Trinkglas mit quadratischem oder waffelförmigem Muster auf der Wandung │ spätes 15.-17. Jahrhundert
-
niedrige bis hohe stangenähnliche Bechergläser mit charakteristischem Quadermuster [5]
-
mit dem Quadermuster versehene konische Becher mit glattem, geradem oder ausladendem Lippenrand [5]
∎ Spechter │ Nachbildung
stangenglashoch gefertigt │ angeblasener Fuß │ Wandung mit Quadermusterung │ Grünglas
Flaschen
∎ Gotische Flasche │ Nachbildung
umlaufender Glasfaden │ Grünglas │ 15. Jahrhundert │ Böhmen
∎ Doppelkonische Flasche │ Nachbildung
Verwendung ? │ gestaucht │ Grünglas │ 14.-15. Jahrhundert │ Deutschland
Kuttrolf
Guttrolf │ Angster
Als „Kuttrolf“ gilt die Sonderform von Schankflaschen mit langer Laufzeit und einem Höhepunkt in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhundert und im 16. Jahrhundert.[8][9]
Die Gefäßgattung zeigt Formvarianten unterschiedlicher zeitlicher Entwicklung
-
im 15. Jahrhundert einen geraden Hals mit regelmäßig runder Mündungsschale
- ab dem späten 15. Jahrhundert mehrere enge, stark gewundene Röhren im geneigten Halsbereich mit einem schnauzenartigen Ausguss.
Nach syrischem Vorbild:
Geripptes, flaschenförmiges Röhrenglasgefäß mit zwiebelförmigem, kugeligem Bauch und tordiertem, aus mehreren dünnen Röhren geflochtener Hals.
Die Formgebung der Guttrolfe in unüblicher Saug-Blas-Technik war bereits in der Frühzeit der Hohlglasherstellung im syrischen wie auch im römisch-gallischen Raum verbreitet.
∎ Mittelalterlicher Kuttrolf │ Nachbildungen
Fadenauflagen │ Grünglas │ 15. Jahrhundert │ Spessart
Fadenauflagen │ Grünglas │16.-17. Jahrhundert │ Deutschland
∎ Großer mittelalterlicher Kuttrolf │ Nachbildung
Fadenauflagen │ Grünglas │ frühes 15. Jahrhundert │ Spessart
Schmuck- und Gebrauchsglas im wikingerzeitlichen Haithabu
Ostsee │ 8.-11. Jahrhundert
Frühmittelalterlich an der westlichen Ostsee am „Haddebeyer Noor“ gegründet, gilt die frühurbane Ansiedlung mit Hafenbereich als bedeutsamer zentraler Umschlagsplatz im Warenverkehr zwischen Mitteleuropa und den Rohstoffmärkten Nord- und Osteuropas.
Dabei lässt sich sowohl der Import als auch die lokale Herstellung und Verarbeitung von Glas auf qualitativ hohem Niveau nachweisen.
So können für das 9.-10. Jahrhundert verschiedenfarbige Glasperlen als Halsschmuck nachgewiesen werden - ein fester Bestandteil wikingerzeitlicher Frauentracht, zugleich auch Zahlungsmittel.
Massiv oder hohl gefertigte Glättgläser (Gniedelsteine) waren in der jüngeren Wikingerzeit fast kaum in der Form verändert in Gebrauch, besonders häufig zum Glätten, Fälteln von Textilien und/oder Reiben.[2]
∎ Seeigel, versteinert │ Original
ohne konkrete Deutung: Amulett (Aberglauben) oder Spielstein?
Schmuck- und Gebrauchsglas der Wikingerzeit
∎ Glasperlen als Halsschmuck ⎸zugleich auch Zahlungsmittel
9.-10. Jahrhundert ⎸ Nachbildungen
∎ Glättglas, massiv │ Haithabu
9.-11. Jahrhundert │ Nachbildung
© Historisches Museum Hellental, Foto: Klaus A.E. Weber
Birka-Becher
sehr wertvolles, auf spätrömischen Traubenbechern beruhendes Glas der Oberschicht
∎ Wikingerzeitlicher Traubenbecher │ Nachbildung
Grünglas │ dicht aneinander gereihte runde Buckel im unteren Gefäßbereich │ zweiteilig geblasen │ 8.-9. Jahrhundert ⎸ FO: Haithabu │ Nachbildung
Glasperlen
Halsschmuck und Zahlungsmittel
∎ Frühmittelalterliche Glasperlen │ Nachbildungen
∎ Glasperle │ Nachbildung
1 grüne Glasperle (10. Jahrhundert) = 1 Dirhem (Silbermünze) = ca. 3 g Silber = 5 kg Getreide
Glättglas (Gniedelstein)
zum Glätten von Nähten │ Nachbildung
∎ Wikingerzeitliches Glättglas │ Nachbildung
massiv │ Grünglas │ FO: Haithabu
Sturzbecher, aus Bruchstücken zusammengesetzt
Siedlung Haithabu ⃒ Bootkammergrab │ 9./10. Jahrhundert [3][4]
Wikinger Museum Haithabu
© [hmh, Foto: Klaus A.E. Weber
Prächtige bunte Kirchenfenster
∎ Spätgotisches Bleiglasfenster │ Ausschnitt
Nachempfindung um 2006
© Historisches Museum Hellental, Foto: Klaus A.E. Weber
Spätgotisches Bleiglasfenster
Monumentale Kirchenfenster mit Glasmalerei glichen im Mittelalter einem prächtigen „Bilderbuch“ mit großformatigen Szenen, die Geschichten erzählten.
∎ Kunsthandwerkliche Nachempfindung einer in Bleiruten gefassten Original-Glasmalerei (Köln)
Staatliche Glasfachschule Rheinbach │ um 2006
Landesberufsschule für Glas und Keramik
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[1] TRIER/NAUMANN-STECKNER 2016, S. 26-28.
[2] STEPPUHN 1998, S. 74-76.
[3] STEPPUHN 1998, S. 58-69.
[4] SCHIETZEL 2014, S. 276.
[5] SCHAICH 2022.
[6] SCHESCHKEWITZ 2022, S. 214.
[7] RÖBER 2022, S. 232.
[8] RÖBER 2022, S. 243-244.
[9] KULESSA 2022, S. 279-280.