Glasmacherhandwerk
Klaus A.E. Weber
Das Weser-Werra-Bergland zählte zu den größten Glaserzeugungs- und Glasverbreitungsgebieten im damaligen deutschen Raum und zu den wichtigsten Glasproduktionsgebieten des „Alten Europas”.
Noch heute ist das Weserbergland eine Schwerpunktregion der glasindustriellen Branche in Deutschland.
Nördlich der Alpen stellten im Weser-Werra-Bergland bereits seit dem 9. Jahrhundert in der Karolingerzeit [4][15] dem Holz nachwandernde Waldglashütten einfaches, überwiegend grün gefärbtes Waldglas her, ab dem 12./13.Jahrhundert auch im ressourcenreichen Umfeld des Hellentals - dem "Alten Tal der Glasmacher" im früheren braunschweigisch-wolfenbüttelschen Waldgebiet Solling.
Es ist anzunehmen, dass neben der grund- bzw. landesherrlichen Zustimmung (Konzession) insbesondere
-
der Waldreichtum (Holzvorrat),
-
ein ökonomisch günstiger Zugang zu den erforderlichen Rohstoffen,
- die Nähe zu einem Fließgewässer
die entscheidenden Voraussetzungen zur Gründung und zum wirtschaftlichen Betrieb von Waldglashütten im Umfeld des Hellentals im Nordsolling waren.
Mit den zahlreich nachweisbaren Wanderungen von Glashandwerkern als Wanderarbeiter kam es zugleich auch zu einem die Glasherstellung und -bearbeitung weiterentwickelnden Technologietransfer.
Im Mittelalter waren aus Glas gefertigte Trink-, Schenk- und Vorratsgefäße kostbare Gegenstände des gehobenen Bedarfs von "Betuchten".
Bouteillen und Trinkgläser blieben als Luxusartikel zunächst nur vermögenden Haushalten vorbehalten.
Nach und nach aber versorgten sich auch wohlhabende Patrizier und andere reiche Bürgerschichten mit allerlei Trink- und Scherzgläsern sowie mit emailbemalten Humpen für besondere Anlässe.
Als Glasdekore dienten (Beeren-)Nuppen, farbige Ränder, Glasfäden und -bänder sowie polychrome Emailbemalungen.
Vielgestaltig und schweißtreibend
Seit dem frühen Mittelalter - ab dem 9. Jahrhundert - wurde in den Wäldern der Mittelgebirgsregion von Solling, Vogler, Homburgwald und Hils Glas erzeugt und verarbeitet.
Erstmals sind Waldglashütten in Nordhessen 1443 urkundlich belegt, wobei es sich um autarke Wohn- und Produktionsstätten im Reinhardswald handelt.[28]
Nicht zuletzt bestanden - glashistorisch wie genealogisch gesehen - handwerkliche und familiär-verwandtschaftliche Beziehungen zu der in die idyllische Landschaft des oberen Gelstertals eingebetteten heutigen Kleinstadt Großalmerode im niederhessischen Naturpark „Meißner-Kaufunger-Wald“.
Während des Mittelalters siedelten in dieser waldreichen, aber auch gerade von Ton, Sand und Kohle geprägten Region zahlreiche Töpfer (u.a. Tiegelmacher) und Glasmacher („Waldgläsner“).
Bereits 1466 waren im Kaufunger Wald, rund um den Ort Almerode, acht Glashütten bekannt.[29]
Großalmerode entwickelte sich schließlich zum „Ort des guten Tons“.
Neuere archäologische Geländeprospektionen im Reinhardswald und im Kaufunger Wald zeigen aber, dass auch in diesen waldreichen Mittelgebirgszügen mit früher beginnender Glaserzeugung und Glasverarbeitung gerechnet werden muss.
Zur einstmaligen Arbeitswelt der Glasmacher auf Waldglashütten (Bayrischer Wald, Böhmerwald) mit über 280 Berufen und "Hantierungen" sowie zu Werkzeugen, zur Hüttensprache und Gesundheit wird zusammenfassend auf REINER [47] verwiesen.
Regionale Waldglashütten
Seit spätestens der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts bestanden in den abgelegenen laubholz- und wasserreichen Mittelgebirgszügen des südniedersächsischen Berglands eine Vielzahl von Glashütten, angelegt als so genannte Wanderglashütten, die dem Holzvorrat als Energielieferant nachwanderten.
Wie zahlreiche Glashüttenstandorte der dicht bewaldeten und wasserreichen Höhenzüge der abgelegenen Mittelgebirge
- Vogler [12][50]
- Homburgwald [10]
belegen, lag im Oberweserraum wahrscheinlich seit dem karolingischen Frühmittelalter bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts das größte Glasmacherzentrum im nördlichen Mitteleuropa.
Bis in die Gegenwart bildet die Glasindustrie mit der Fertigung von Behälter- und Spezialgläsern einen wichtigen Wirtschaftsfaktor in der „Schatzkammer des Weserberglandes“, im Landkreis Holzminden.
Damit ist auch die Zukunft einer über 850-jährigen kontinuierlichen Glasmachertradition regional gesichert.
Die mittelalterlichen Glashütten waren zunächst kleine Betriebe, die wegen ihrer Feuergefährlichkeit abseits von Dörfern tief in den Laubwäldern lagen - wie »in the middle of nowhere«, im Hellental.
Wegen dieser Lage im Wald werden sie üblicherweise als "Waldglashütten" bezeichnet.
Glashandwerker jener Zeit waren Wanderarbeiter.
War das Brennholz in der Umgebung der Glashütte aufgebraucht, so zogen die Glasmacher mit ihren Familien und ihrem Viehbestand zum nächsten unverbrauchten Standort - daher die Bezeichnung „Wanderglashütten“.
Die Herzöge des Fürstentums Braunschweig-Wolfenbüttel, die die landesherrliche Betriebserlaubnis einer Glashütte erteilten, achteten sehr darauf, dass einerseits der an sich enorme Holzverbrauch in Grenzen gehalten wurde, andererseits die Hüttenbewohner keine dauerhaften Siedlungsplätze in den herzoglichen Wäldern schufen.
Daher erhielt der Glashüttenmeister in der Regel auch nur eine landesherrlich auf wenige Jahre festgesetzte Konzession.
Häufig durften in einem Waldgebiet nicht mehr als 2-3 Waldglashütten gleichzeitig produzieren.
Vielfältige, teilweise auch spektakuläre archäologische Funde im Weser-Werra-Leinebergland belegen ein reichhaltiges Spektrum an mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Gläsern mit unterschiedlichen Formen, Verziehrungen und Farbgebungen.
Neben farbigem Flachglas - als Fensterglas für Kirchen - stellten die technisch und künstlerisch versierten Glasmacher in serieller oder Einzelfertigung einfache Trink- und Schenkgefäße her, aber auch technisch diffizile, verfeinerte und ästhetisch reizvolle Hohlgläser zum repräsentativen höfischen und kirchlichen Gebrauch.
"Glasser" und "Glaßmaler" [20]
Seit dem Mittelalter isoliertes Leben und selbständiges Arbeiten im Solling
Die sich ihres Standes bewussten Glasmacherfamilien bildeten während des Mittelalters bis zur frühen Neuzeit eine exklusive berufliche und soziale Gruppe.
Die Glasmacher waren meist zunftartig organisiert, regelten ihre Interessen selbst und ahndeten Verstöße.
Kunstfertige Glasmachermeister lebten und arbeiteten mit ihren Gesellen auch in den entlegenen, wasser- und holzreichen Laubwäldern im Raum Hellental, einem alten Grenzraum im nördlichen Solling (Buntsandstein-Mittelgebirge).
Die mit örtlich anstehendem Buchenholz befeuerten Arbeitsöfen der Waldglashütten brannten von April bis November (Ostern - Martini), gereglt durch die Zunftordnung vom 23. Juli 1406 (Bundesordnung des im Spessart gegründeten Glasmacherbundes) und der des "Hessischen Gläsnerbundes" von 1537.
Während der Winterzeit ruhte die Glasherstellung und die Glasmacher schlugen dann im nahen Sollingwald Holz für die kommende Produktion ein.
Zudem wurden die „kalt gelegten“ Werköfen ausgebessert oder erneuert, da sie durch die mehrmonatige Betriebszeit und die hohen Schmelztemperaturen stark beansprucht waren.
Der kontinuierliche, wenig kontrollierbare Vorgang der Glasschmelze erforderte ein produktionsortnahes Wohnen der Glasmacherfamilien (Werkssiedlungen) sowie eine Betriebsorganisation im Schichtdienst rund um die Uhr.
Die Betriebsgemeinschaft der Hüttenbewohner versorgte sich in der Regel selbst.
Zu ihrer Ernährung betrieben sie nahe ihrer Glashütte eine „kleine Landwirtschaft“ mit Viehhaltung (Schweine, Ziegen) und Gartenbau.
Auch wurden in der Nähe der Glashütte kleine Ackerflächen angelegt.
Nicht zuletzt aus Gründen der Konkurrenz wurde Jahrhunderte lang die streng geheim gehaltene Kunst der Glasherstellung und -verarbeitung vom Vater auf die Söhne in immer denselben Meisterfamilien weitervermittelt.
Mit der Weitergabe des Fachwissens wurde zugleich auch der lukrative Glasmacherfachberuf vom Vater auf den Sohn vererbt.
Gut dokumentiert ist, dass während des Dreißigjährigen Krieges eine 1632 gegründete Waldglashütte im Hils in den Jahren 1625 und 1627 von Soldaten überfallen wurde.[5]
Nach neueren archäologischen Ausgrabungen und Untersuchungen konnte im Jahr 2015 am Südrand des Sollings eine Waldglashütte des 9. Jahrhunderts (Karolingerzeit) lokalisiert werden - im historischen Kontext mit der Glasverarbeitung in den baubezogenen Corveyer Klosterwerkstätten.[4]
Somit dürfte die Waldglashüttenzeit etwa 300 Jahre älter sein als bislang in der Fachwelt angenommen wurde.
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[4] STEPHAN 2015a.
[5] LEIBER 2015.
[10] zwei Glashüttenstandorte (Einofenanlagen) bei LEIBER 2009, S. 85-92.
[12] Braunschweigische Glashütte nordostwärts von Golmbach am Vogler - Abwerbung durch Herzog Heinrich Julius ab 1599 Wirkungsstätten des böhmischen Glasmachers und Emailmalers Peter Hüttel zur Weißglaserzeugung (ALMELING 2006, S. 41).
[15] Mittels Grabung am Kreickgrund zwischen Bodenfelde und Polier konnten drei Öfen einer karolingischen Waldglashütte des 9. Jahrhunderts an einem kleinen Bachlauf archäologisch freigelegt werden, die in Verbindung mit der ehemaligen Reichsabtei Corvey mit karolingischer Hauptbauzeit gesehen werden kann.
[28] typischerweise mit Hauptgebäude mit einem oder mehreren Öfen, mit Wohn- und Schlafhäusern für den Glasmachermeister und seine Gesellen, mit einem Viehstall und mit einem Material- und Geräteschuppen.
[29] Großalmerode o. J., S. 9.
[47] REINER 2004.
[50] LEIBER 2019.