Glastyp »Stangenglas« mit der Sonderform »Passglas«

Klaus A.E. Weber

 

Im 16. Jahrhunderts entstand nördlich der Alpen nach handfesten Formvorstellungen in Verbindung mit derben Trinksitten die Tradition des "Waldglases" mit kräftig gefärbten oder mit Emailmalerei dekorierten Glasgefäßen in teils beträchtlicher Größe.

Demgegenüber entsprachen die farblosen, dünnwandig ausgeblasenen Gläser aus Venedig dem Geschmack kultivierter Adelskreise und des Patriziats großer Städte.

 

Keulenglas (Bierglas)

2. Hälfte 14. Jahrhundert

Böhmen [16]

Museum Lüneburg

© [hmh, Foto: Klaus A.E. Weber

 

Folgt man BISCHOP [13], so entwickelten sich aus dem klassischen schlanken »Keulenglas« mit breitem Fuß und keulenartiger Verdickung unterhalb des Randes, dessen überregionale Blütezeit weit bis ins 16. Jahrhundert andauerte, bis 1500 als gleichgestellte Typvarianten mehr oder weniger zylindrische sowie auch mehrkantige »Stangengläser«.

Den schlanken Glastyp Stangenglas charakterisiert ein großvolumiger, dünnwandiger konischer bis zylindrischer Gefäßkörper mit einem mehr oder weniger hochgestochenen, konischen Fuß von breitem Durchmesser und hohlem Rand.[8][13]

Er gilt als eine spezielle Form des Trinkglases und wird direkt mit dem Bierkonsum in Verbindung gebracht:

Stangengläser waren die geläufigste Trinkglasform Norddeutschlands und wurden in der Regel als Biergläser genutzt, da sie generell die Schaumkrone und somit die Frische des Bieres länger bewahren können als weitmündige Gefäße, wie z. B. Krautstrunk oder Römer, die zum Weingenuss vorgesehen waren.“[13]

Nach STEPHAN [9][10] werden die vornehmlich dem Biergenuss dienenden Stangengläser in formaler Zuordnung als Mehrkantgläser/polygonale Stangengläser/Achtkantstangengläser beschrieben:

Gemeint sind damit hohe, schlanke, annährend zylindrische oder auch zum Fuß hin leicht konisch zulaufende und seltener (so auch im Falle der Keulengläser) in ihrer Grundform vom Fußansatz zur Halspartie hin etwas stärker konturierte und im oberen Drittel verdickte dünnwandige Trinkgefäße, deren besonderes Merkmal sehr oft ein hochgestochener Fuß mit hohlem Rand ist.“

Stangengläser lassen sich in verschiedene Formen untergliedern mit einer Kombination unterschiedlicher Dekors, Randformen und Fußausführungen.[2]

Neben glattwandigen Stangengläsern gibt es vor allem solche mit dekorativen Nuppenapplikationen und glatten oder gekniffenen (gekerbten) Fadenauflagen.

Durch das Einblasen in ein Model wurden Außenflächen von Wandungen auch durch längs- oder schrägoptisch geblasene feine diagonale Rippen verziert.

Ein angesetzter Scheibenfuß kennzeichnete die hohen böhmischen Stangengläser.

Zylindrische wie runde Stangengläser sind in ihrer Zeit aus Holzasche- oder Holzasche-Kalkglas gefertigt.

Zur handwerklichen Herstellungstechnik und formalen Gestaltung von Mehrkantstangengläsern wird auf die anschaulichen Beschreibungen bei STEPHAN [12] verwiesen.

Hinweise zu Mehrkantstangengläsern des 16./17. Jahrhunderts in bildlichen Darstellungen finden sich auch bei STEPHAN [11].

 

Achtkant-Stangenglas

hellgrünes Waldglas

geriffelte Fadenauflagen

17. Jahrhundert

Hils

Erich-Mäder Glasmuseum

Grünenplan

© [hmh, Foto: Klaus A.E. Weber

 

Achtkant-Stangengläser

Die hohen, schlanken Achtkantstangen mit Fußring zählen zu den im Model geblasenen, zylindrischen Hohlgläsern, teils mit aufgelegten Glasfäden dekoriert.

Das den Stangengläsern zugrunde liegende Oktogon ist eine geometrische Figur, ein Vieleck (Polygon) mit acht Ecken und acht Seiten.

Das regelmäßige Achteck liegt zwischen Kreis und Quadrat und steht symbolisch für die Vollkommenheit, wie beispielsweise die hochmittelalterliche Reichskrone des Heiligen Römischen Reiches.

Nach BISCHOP [4] sind in ihrer mehrkantigen Variante solche achtkantigen Stangengläser vereinzelt bereits aus dem 14. Jahrhundert bekannt.

Die Form des mehrkantigen Stangenglases datiert in ihrer klassischen Blütezeit aber erst in das ausgehende 16. und die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts.[1][3][4][15]

Dabei gilt vor allem das Werra-Weser-Bergland als wichtigstes Herstellungsgebiet.

So wurden mehrkantige Stangengläser in Südniedersachsen am Hils, Solling, Reinhardswald, Bramwald und im Kaufunger Wald in Nordhessen  produziert und als bruchgefährdetes Handelsgut über die Weser nach der Hansestadt Bremen transportiert.[15]

Von dieser Zwischenhandelsstation aus wurden die Glaswaren nach Amsterdam, Holland und Skandinavien verschifft.

 

Willkommgläser

Wie in Sgrafitto-Technik in Tellerspiegeln der renaissancezeitlichen Werrakeramik eingebrachte symbolische Bilder darstellen, wurden vermutlich mit Bier gefüllte Stangengläser den Gästen als „Willkomm“ gereicht.[14]

 

Stangengläser mit Pässen = Passgläser = „Bändchengläser“ [7]

Die Sonderform des 16.-18. Jahrhunderts ist das vorwiegend zum Biertrinken gebrauchte nord- und mitteldeutsche Passglas.

Es ist ein konisches, hohes, zylindrisches Glasgefäß mit abgeflachtem Boden und gleichmäßig aufgebrachten horizontalen band- oder schraubenförmigen Umwicklungen mit Kerbfäden.

 


Zylindrisches Stangenglas

mit Pässen (Passglas)

umlaufende farblose Kerbfäden

markieren Pässe

17. Jahrhundert

Deutschland

Rijksmuseum Amsterdam

© [hmh, Foto: Klaus A.E. Weber

 

Achtkantstange

grünliches Glas

umlaufende blaue Kerbfäden

markierte Pässe

17. Jahrhundert

Niederlande oder Deutschland

Rijksmuseum Amsterdam

© [hmh, Foto: Klaus A.E. Weber

 

Die in regelmäßigen Abständen angebrachten Fadenmarkierungen dienten als horizontale Maßeinteilung zur Bemessung.

So galt es beim gemeinschaftlichen Umtrunk, insbesondere aber beim zeitgenössischen Trinkspiel, mit dem jeweiligen Zug, die entsprechende nächste Markierung zu treffen – es wurde wetteifernd „auf den Pass“ getrunken.

Nach einer Beschreibung von STEPHAN [6] besitzt das „klassische deutsche Passglas … je markierter Einheit/Gefäßzone nur einen horizontal aufgelegten oder auch in Emailmalerei ausgeführten (dann weißen oder farbigen) Faden.“

Weiterhin führt STEPHAN aus, dass es während des 16. und 17. Jahrhunderts Stangengläser gab, die „jeweils zwei, drei oder vier, auch fünf Passmarkierungen“ aufweisen, aber auch „vielzügig leicht spiralig aufgelegte glatte oder häufiger mit einem feinen Rollrädchen verzierte ‚gekerbte‘ Fäden pro Pass“.

 

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[1] NIEDERFEILNER 2004, S. 71-73.

[2] SCHESCHKEWITZ 2022, S. 217.

[3] SEGSCHNEIDER/KRABATH/SCHRÖDER 2017, S. 36.

[4] BISCHOP 2022, S. 325.

[5] Basel Aeschenvorsstadt Frauengrab.

[6] STEPHAN 2021, S. 67.

[7] STEPHAN 2021, S. 84.

[8] RÖBER/VOLCK/ZIMMERMANN 2022, S. 309.

[9] STEPHAN 2021, S. 28-33, 63-76.

[10] STEPHAN 2021, S. 63, 70.

[11] STEPHAN 2022, S. 178-185.

[12] LEIBER 1994, S. 30, 31 Abb. 12.

[13] BISCHOP 2022, S. 326-327.

[14] BISCHOP 2022, S. 334-335.

[15] BISCHOP 2022, S. 335-336.

[16] RING 2003, S. 101 Abb. 2.051.