GLAS im Solling

Klaus A.E. Weber

 

Identitätsstiftende Kraft des Glases für die Region [10]

 

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"Vitrinenstars" in der Ausstellung

© Historisches Museum Hellental, Foto: Mechthild Ziemer

 

550 Jahre diskontinuierliche Glasherstellung im „Alten Tal der Glasmacher

"Waldglas" benennt die glasgeschichtliche Epoche vom 12. Jahrhundert bis 17. Jahrhundert.

Aus Glas gefertigte Trink-, Schenk- und Vorratsgefäße waren im Mittelalter kostbare Gegenstände des gehobenen Bedarfs - als Luxusartikel nur vermögenden Haushalten vorbehalten.

Die faszinierende, edle und freie „heiße Kunst” der manuellen Herstellung von Waldglas gab es in jener Epoche als ländlichen Gewerbezweig auch in der wald- und wasserreichen Umgebung des abgelegenen Hellentals im nördlichen Solling.

Das „Alte Tal der Glasmacher“ [7] lag einst im herzoglichen Weserdistrikt des Fürstentums Braunschweig-Wolfenbüttel.

Im Mittelalter folgten dem „Hellentaler Graben“ Territorialgrenzen zwischen dem Fürstentum Braunschweig-Wolfenbüttel, Hochstift Hildesheim und Fürstentum Calenberg, später Kurfürstentum/Königreich Hannover.

 

... gelegen im "europäischen Kernraum der historischen Glaserzeugung"

Während des frühen bis späten Mittelalters zählte das Weser-Leine-Bergland mit angrenzenden Gebieten zu den bedeutendsten Glaserzeugungs- und Glasverbreitungsgebieten im deutschen Raum und zu den wichtigsten europäischen Glaserzeugungsgebieten im Mittelalter, fortgesetzt bis zum 19./20. Jahrhundert.

Das Oberweser-Werra-Bergland gilt nach STEPHAN [4][8] als "ein Kerraum der historischen Glaserzeugung Europas im Mittelalter bei hoher Anzahl im Gelände lokalisierter mittelalterlicher Hüttenplätzen, besonders aus dem 12./13. Jahrhundert, auch aus dem 14./15. Jahrhundert".

In den Wäldern des Bramwaldes, Reinhardswaldes und des Sollings konnten bislang insgesamt rund 200 mittelalterliche und neuzeitliche Waldglashütten lokalisiert werden.[6]

Auch der Kaufunger Wald zählt mit seiner Gläsnerei - Glashütte II im oberen Niestetal⎹ Glashütte I im oberen Niestetal⎹ Große Niestehütte - zu den wichtigsten deutschen Gebieten der Waldglasherstellung.

 

FUNDORTSPEICHER │ Datenkatalog Glashütten Hellental

Mittelalterliche und (früh-)neuzeitliche Standorte von Waldglashütten im Umfeld des Hellentals im Solling

 

Schatzsuche und Zeitreise

"Die Geschichte der Glaskunst

- von ihren Anfängen ungefähr vor 1.500 Jahren v. Chr. bis heute -

verläuft in Wellenbewegungen,

bei denen sich Phasen aufsehenerregender Errungenschaften

mit Zeiten der Stagnation ablösen."

Dedo von Kerssenbrock-Krosigk 2017 [3]

 

In Vitrinen werden die wichtigsten und interessantesten Fundstücke sowohl der mittelalterlichen als auch der (früh-)neuzeitlichen Glashüttenstandorte präsentiert.

Auf dem chronologischen Rundgang durch sechs Epochen und über 3.500 Jahre Glasgeschichte(n) warten besondere Begegnungen:

 

Bei einem weiteren Rundgang begegnen man den Wurzeln der faszinierenden „heißen Kunst” der manuellen Glasherstellung in dem abgelegenen Grenzraum des Hellentals im ehemaligen Weserdistrikt des Fürstentums Braunschweig-Wolfenbüttel - als um 1200 im "Aufbruch zur Gotik" [5] die Stadt- und Klostergründungen zu einem erhöhten Bedarf an verschiedenen Glaswaren führten.

 

Hanseschiff im 14.–17. Jahrhundert

Verkleinertes Modell

© Historisches Museum Hellental, Foto: Klaus A.E. Weber

 

Eine Zeitreise durch das bislang erschlossene Bodenarchiv des glashistorischen Erbes im "Alten Tal der Glasmacher" führt zu wandernden Glasprofis im Umfeld des lang gestreckten Sollingtals.

Glasarchäologische Zeugnisse ehemaliger Glashüttenstandorte belegen eindrucksvoll die holzwirtschaftliche Nebennutzung des Sollingwaldes zur saisonalen Waldglasherstellung - vom Mittelalter bis zur Neuzeit.

In drei Phasen - im Hoch- bis Spätmittelalter, im ersten Drittel des 17. Jahrhunderts und in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts - wurde in dem für die Glasherstellung besonders ressourcenreichen Hellental diskontinuierlich handwerklich kunstvolle "Feuerspiel" durch den historisch typischen Wanderberuf des Glasmachers ausgeübt.

 

Glas als Herrschaftsware Töpferware für Minderbetuchte

Die mittelalterliche Trinkfreudigkeit bedeutete, dass sich wohlhabende Bürgerkreise und Adelige ihre Trinkgefäße für das heimische Bier etwas kosten ließen.

In einer Gegenüberstellung zeigt eine Ausstellungseinheit, dass in der mittelalterlichen Zeit des "Aufbruchs in die Gotik" [5] aus Glas gefertigte Trink-, Schenk- und Vorrratsgefäße kostbare Gegenstände ausschließlich des gehobenen Bedarfs waren - als Luxusartikel nur vermögenden (herrschaftlichen) Haushalten vorbehalten.

Demgegenüber deckten keramische Erzeugnisse - Irdenware sowie Steinzeugprodukte - regionaler Töpfereien, wie beispielsweise gebrauchskeramische Fragmente aus dem Fundschleier der mittelalterlichen Wüstung des Töpferdorfes Bengerode (12.-15. Jh.) zwischen Fredelsloh und der Burg Grubenhagen (13. Jahrhundert, Einbeck) den alltäglichen Geschirrbedarf der zumeist ärmeren städtischen und ländlichen Haushalte.

 

Restaurierte Deckeldose mit Knauf-Deckel

Duinger Steinzeug

Waldglashütte im oberen Hellental

1. Drittel 17. Jahrhundert

© Historisches Museum Hellental, Foto: Keramik Restaurierung Lüdtke

 

Weserware und Duinger Steinzeug der Renaissance

Zur Alltagskultur der frühneuzeitlichen Glashütte "Oberes Hellental“ zählte das in Töpfereizentren zwischen Oberweser und Leine im 16. und 17. Jahrhundert massenhaft hergestellte Gebrauchsgut.

Dekorative Weserware als Irdenware mit Malhorndekor und hochwertiges Steinzeug aus dem "Pottland" (Duingen):

 

Deckeldose ⃒ restauriert

Duinger Steinzeug

Die scheibengedrehte, hellbraune, unbemalte Keramikdose mit Knaufdeckel besitzt auf ihrer glasierten Oberfläche eine flächen deckende Rollradverzierung an Deckel und Dose.

 

Salbendöschen

Duinger Steinzeug

 

Teller mit Malhornverzierung ⃒ restauriert

Die Wandung und der Gefäßboden des scheibengedrehten Tellers zeigt in polychromer Malhornverzierung auf rötlich-braunem Grund ein alternierendes, geometrisches gelbliches und dunkelbraunes Dekor.

 

Werraware - „Nur die teuren Stücke werden verziert …“

Zur vornehmen, repräsentativen Ausstattung der Glashütte "Oberes Hellental“ des frühen 17. Jahrhunderts zählte renaissancezeitliche Werrakeramik des „Wanfrieder Typs“.

Als Malhornware mit figürlichen Dekordetails in Ritztechnik und teils qualitätsvoll ausgestalteten Hauptmotiven auf dem Fond ist die Werrakeramik eine bedeutende, aufwändige und hochspezifische Gruppe bemalter Irdenware zwischen 1570 und 1650.

Die scheibengedrehte, innen bleiglasierte Geschirrkeramik ist eine stilistische Innovation - nur zum Ansehen für Vornehme und Reiche - mit einem ikonografischen Programm in der volkstümlichen dekorativen Handwerkskunst regionaler Töpferwerkstätten an Werra und Weser.

∎ Teller- oder Schüsselfragmente bemalter und ritzdekorierter Werrakeramik

∎ Zeittypisch zeigt ein zusammengesetztes Bodenfragment als figürliches Hauptmotiv einen renaissancezeitlich gewandeten Mann.

 

Wanfrieder "Tellers mit dem Falkenmotiv“

originalgetreue Nachfertigung

Werraware aus dem Jahr 1605

© Historisches Museum Hellental, Foto: Klaus A.E. Weber

 


Restaurierte Schale der polychromen "Weserware"

Frühneuzeitliche Glashütte im oberen Hellental

1. Drittel 17. Jahrhundert

© Historisches Museum Hellental, Foto: Klaus A.E. Weber

 

Pfeife, Holzform und Schere

Glasherstellung durch Wanderarbeit im Umfeld des Hellentals

Den besonderen Schwerpunkt des Themenbereichs bildet die hoch-/spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Glasherstellung und Glasbearbeitung in so genannten Waldglashütten, an deren aktiven Erforschung sich das Regionalmuseum betätigt und Forschungsergebnisse veröffentlicht.

Fundmaterialien von Oberflächenbegehungen belegen für die Glashütten-Landschaft des Hellentals mehrere wüstgefallene Glashüttenstandorte des Mittelalters, die dem Holzvorrat der Sollingforsten nachwanderten.

Von traditionellen Glasmachern als "Wanderglashütten" betrieben, waren die Hüttenanlagen abgelegene kleine Betriebssiedlungen auf Zeit.

Für die Arbeitsverhältnisse der Glasmacher war kennzeichnend, dass sie die Arbeitsöfen ihrer Waldglashütten von Ostern bis Martini betrieben.

War dann die Glasofenanlage nicht mehr wirtschaftlich nutzbar, so wurde sie im Umfeld des Hellentals an einem andern Ort neu errichtet.

Glasfunde zu den verschiedenen Produktionsperioden im Hellental informieren über eine reichhaltige Produktpalette verschiedenartiger Hohlgläser und Flachgläser dortiger Glashüttenbetriebe.

Veranschualicht werden auch die wesentlichen Rohstoffe zur anspruchsvollen manuellen Hohl- und Flachglasherstellung, ebenso die dazu erforderlichen Glasmacherwerkzeuge.

Vielfältige Oberflächenfunde im Hellental wie in seiner näheren Umgebung dokumentieren - gemeinsam mit dem Großmodell eines frühneuzeitlichen Werkofens - anschaulich das "Spiel mit dem Feuer" beim Betreiben einer Sollingglashütte.

Die keramikrestauratorische Rekonstruktion eines etwa 800 Jahre alten Glashafens gilt als archäologische Rarität früher Waldglasherstellung im Glaserzeugungskreis des nördlichen Sollings, ein fassbares Zeugnis hoch-/spätmittelalterlicher Glaserzeugung in einer Hellentaler Waldglashütte.

Dem Formenspektrum oberflächennaher gläserner Bodenfunde aus dem "Alten Tal der Glasmacher" werden komplette regionaltypische Formglasprodukte - originalgetreu nachgebildete Gläser - zur Veranschaulichung gegenübergestellt.

Zusammen mit Oberflächenfunden aus Glas, Eisen und Keramik erzählt das historisch inszenierte Großmodell eines Glasschmelzofens vom "heißen Arbeiten", aber auch von den alltäglichen Arbeits- und Lebensbedingungen auf einer Waldglashütte im Solling.

Die hohe Leistungsfähigkeit der im 1. Drittel des 17. Jahrhunderts im Hellental produzierenden Glashütte unterstreicht ein differenziertes Hohl- und Flachglasspektrum in regionaltypischer, zeitgenössischer Formensprache.

 

© Historisches Museum Hellental, Foto: Klaus A.E. Weber


Feuerfester Beeren-Nuppenstempel

Waldglashütte im oberen Hellental

1. Drittel 17. Jahrhundert

© Archäologische Denkmalpflege Landkreis Holzminden

 

Die Werrakeramik gilt als die bedeutendste und aufwändigste polychrome Irdenware in der Renaissance - mit Ritzverzierungen und teils qualitätsvoll ausgestalteten Zentralmotiven im Gefäßboden.

Die scheibengedrehte, dekorativ bemalte und innen bleiglasierte Keramik wurde in den Jahrzehnten um 1600 stromabwärts von Werra und Weser in regionalen Töpferwerkstätten hergestellt, u.a. auch in Höxter.[2]

Charakteristisch für die Werrakeramik ist, dass – neben der Schlickermalerei - Dekordetails in Ritztechnik hervorgehoben und zentrale Personen- oder Tierdarstellungen vielfältig ausgestaltet wurden, häufig auch mit innen aufgemalten Jahreszahlen.

 

Gefäßbodenfragmente

aufwändiger Werrawaren-Schalen

in der Bildmitte: Zentralmotiv

eines renaissancezeitlich gewandeten Mannes

Waldglashütte im oberen Hellental

1. Drittel 17. Jahrhundert

© Historisches Museum Hellental, Foto: Klaus A.E. Weber

 

Einfaches wie auch aufwändiges renaissancezeitliches Gebrauchsgeschirr aus bleiglasierter, teils bemalter Irdenware - "Weserware" und insbesondere lokal eher selten anzutreffende "Werraware" - weisen auf weitläufige Handelsbeziehungen, auf einen gewissen Wohlstand und auf eine längere Betriebszeit der um 1600 im oberen Hellental betriebenen Waldglashütte hin.

Wie für Waldglashütten typisch, so waren auch hier das Arbeiten und Wohnen eng miteinander verbunden.

Der Frage, wie im Hellental in der um 1715 von mecklenburgischen Arbeitsmigranten gegründeten "Söllinger Glasshütte" letztmals Glas hergestellt und unter der Regentschaft von Herzog Carl I. zugleich das Ende der traditionellen Waldglashüttenzeit im Solling eingeläutet wurde, widmets ich die Glas-Ausstellung.

 

Flaschensiegel aus der Zeit der "Sollinger Glashütte"

Hellental

1. Hälfte 18. Jahrhundert

Zeichnung: Sandra Gregor │ August 2004

Archäologische Denkmalpflege Landkreis Holzminden

 

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[1] nach: Museum Kunstpalast – Spot on 07, Düsseldorf 2011.

[2] KÖNIG, ANDREAS: Renaissancezeitliche Werrawarefunde aus Höxter - ein Überblick. In: GÄRTNER, TOBIAS, STEFAN HESSE, SONJA KÖNIG: Von der Weser in die Welt. Festschrift für Hans-Georg Stephan zum 65. Geburtstag. Alteuropäische Forschungen. Arbeiten aus dem Institut für Kunstgeschichte und Archäologien Europas der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Neue Folge 7. Langenweißbach 2015. S. 197-209.

[3] GÖTZMANN/KAISER 2017, S. 21.

[4] STEPHAN 2017.

[5] Landesausstellung Sachsen-Anhalt 2009, Kulturhistorisches Museum Magdeburg, „Aufbruch in die Gotik“.

[6] Umfassende Übersicht bei STEPHAN 2010, S. 133-143, 260-253, 507-527.

[7] Das "Alte Tal der Glasmacher" im Solling – Als Marketingtitel © Copyright 2014 by Dr. Klaus A.E. Weber, Hellental.

[8] TAH 2017; STEPHAN 2017.

[9] Keramik Restaurierung Lüdtke, Bad Münder am Deister.

[10] KRAMER 2022d.