Das Hellental im Solling - Tal der Lieder

 

© [hmh, Foto: Klaus A.E. Weber

 

Das Tal der Lieder [1][2]

Über den Wolfskuhlen ging die Sonne zur Rüste und lachte zum Abschiede den hannoverschen Berg so herzlich an, dass selbst die ernsten Tannen freundlicher aussahen.

Die grünen Buchen aber strahlten nur so.

Auf dem Wege, der sich als rotes Band durch die Wiese zog, stiegen Frauen herab, tief gebückt unter den Traglasten von Leseholz auf ihren Rücken.

Kinder, die Hände voller Blumen, sprangen ihnen singend und lachend entgegen.

Noch schlugen die Finken und pfiffen die Meisen; doch immer mehr kamen die Drosseln zu Wort hüben und drüben am hellen hannoverschen und dunklen Braunschweiger Berge, und die Rotkehlchen mengten ihre süßen Lieder zwischen die lauten Klänge, zu denen der Teufelsbornbach im Grunde vergnügt die Begleitung brummte.

Da schallten klare Stimmen aus dem Walde heraus.

Unter den Hängebirken her, die die rote Fahrstraße begleiteten, tauchte ein Trupp junger Kulturarbeiterinnen auf.

Leichtfüßig trotz der derben Schuhe und der Rucksäcke und der anstrengenden Arbeit, die hinter ihnen lag, kamen sie daher und sangen, dass es nur so schmetterte:

 

”Hab’ ich kein Geld auf dieser Welt,

Hab’ ich einen Schatz, der mir gefällt.

Er ist so weit über Berg und Tal,

Daß ich ihn gar nicht sehen kann.”

 

Ich nickte ihnen zu. Lustig erwiderten sie den Gruß, ohne sich stören zu lassen; ja, mir wollte es scheinen, als hätten sie nur um so frischer weiter gesungen, um mir zu zeigen, dass die Mädchen von Hellental die schönsten Stimmen haben weit und breit.

Zehn verschiedene Stimmen waren es, und doch nur ein einziger Klang.

Ich sah ihnen nach, bis sie hinter der Wegkrümmung verschwanden, und als sie schon weit weg waren, hörte ich es noch schallen:

 

”Und als ich kam in die Großstadt hinein,

Da stand mein Schatz am Fensterlein.

Mir tat mein Herz in der Brust so weh’,

Dieweil mein Schatz muss Schildwach stehn.”

 

Langsam ging ich den Weg entlang, zwischen den Wiesen hin, wo die stolzen Kuckucksblumen bei den bescheidenen Grasnelken standen, hörte den Ringeltäuber drüben am Berge rucksen und die Hohltäuber hüben heulen, sah die goldenen Lichter auf dem Bache verlöschen und den grünen Hang seinen Schein verlieren, und ging weiter, immer weiter unter dem Gatter her, über dem oben auf dem Lichtschlage Rotwild entlang zog, bis es aufwarf und in die Dickung polterte; dann wieder kam Gesang mir entgegen.

Waldarbeiter waren es.

Hart klangen ihre Nagelschuhe auf dem Steinschotter, aber weich klang es durch den dämmernden Wald:

 

”Morgens früh an schönen Tagen,

Wenn das Gras am grünsten steht

Muss ein jeder Jäger wissen,

Wo das schönste Wildbret geht.

 

Hirsch’ und Hasen muss man schießen,

Eh’ sie laufen in den Wald;

Schöne junge Mädchen muss man lieben,

Eh’ und eh’ sie werden alt.”

 

Der Waldkauz in den Buchen fing vor Neid an zu wimmern, so sangen die Männer, und die Ohreule in den Fichten seufzte hinter ihnen her. Ich aber stieg den Berg empor, bis die letzte Drossel ausgesungen hatte, und dann in das Dorf hinab, dessen steile Straße voll von lautem Leben war.

Und als ich danr später unter der Hängelampe saß, kamen sie an, die Gehrmanns, Eikenbergs, Roloffs und wie sie alle hießen, lauter Waldarbeiter mit harten Händen und freundlichen Augen, und ein Wort gab das andere, bis erst der eine und dann der andere eine der Wilddiebsgeschichten zum besten gab, die er von seinem Vater gehört hatte, der die Zeiten miterlebt hatte, als das Wild noch nicht hinter den Gattern stand, sondern Nacht für Nacht auf den Feldern zu Schaden ging und jeder dritte Mann in der Gegend ein Freischütz war.

Lustig und traurig waren die Geschichten, die ich hörte, und wild und wehmütig die Lieder, die wir sangen, und schließlich ließ sich Vater Timmermann, unser Wirt, bewegen und holte die Forke hervor, den alten einläufigen Vorderlader, mit dem so mancher Hirsch heimlicherweise gefällt war, und der nun schon über ein Menschenalter hahnlos und rostverbrannt im Schranke staubte als Angedenken an die alten schlimmen Tage.

Es war schon spät, als ich in das Bett kam; aber trotzdem war ich früh auf.

Die Frühsonne kam blank hinter dem Heukenberge her und schien in mein Fenster, und helle Stimmen klangen hinein; das junge Volk machte seinen Sonntagsfrühgang in den Berg.

Lustig klang es von dem einen Berg herüber:

 

”Es wollte ein Jäger wohl jagen,

Dreiviertel Stund vorm Tagen,

Ein Hirschlein oder ein Reh,

Ein Hirschlein oder ein Reh,”

 

und von dem anderen her:

 

„Und jetzt nehm’ ich meine Büchse

Und geh’ in den Wald

Und schieße mir ein Hirschlein,

Sei es jung oder alt.”

 

Die Spatzen lärmten, und die Schwalben zwitscherten, die Finken schlugen, die Drosseln pfiffen, und wieder war das ganze Hellental voll von Gesang und frohen Stimmen.

Ich zog dann auch bald hinaus bis dahin, wo das Tal endigte und der Bach in ihm in den Grund fällt, sah die Blumen winken und die Falter fliegen, hörte dem Rauschen der Buchen zu und den Vögeln, die in ihren Zweigen sangen.

Aber ab und zu, bald hier, bald da, klangen frohe Menschenstimmen dazwischen; von hüben, von drüben, kamen lustige und wehmütige Lieder herab in den Wiesengrund, und als ich zum Dorfe ging, schallten vor mir und hinter mir alte, schöne, liebe Weisen, die sich hier in diesem weltfernen Waldwinkel gehalten haben, aber anderswo meist schon längst vergessen sind.

Als ich in das Dorf hineinkam, kam mir voller Chorgesang aus der Kapelle entgegen, so schön und rein, wie ich ihn kaum je aus einer Dorfkirche hatte herausklingen hören.

Und nachmittags kam das Paar, das nach der Kirche zusammengegeben war, daher.

Der Bräutigam im hohen Hute und Kirchenrock, den Myrtenstrauß an der Brust, führte die Braut an der Hand, der der Kranz gut zu dem schwarzseidenen Kleide stand.

Hinterher gingen die Brautführer, die weiß bekleideten Brautjungfern im Arme, und die Verwandtschaft machte den Beschluß. Und alle sangen:

 

”Mir gefällt das Eh’standsleben

Besser als das Klosterzieh’n.

In das Kloster mag ich nicht,

Bin ja schon zur Eh’ verpflicht’,

Ja, Eh’ verpflicht’.”

 

So zogen sie dahin in den grünen Berg nach alter Sitte, und alle Vögel sangen dem jungen Paar zu Ehren mit, so laut sie konnten.

Wie dieser helle Sonntag im Hellental anfing, so wurde er auch beschlossen.

Wohin ich kam im grünen Walde, hallte und schallte es von Liedern.

Abends aber versammelte sich das ganze junge Volk im Kruge; rundherum saß die Jungmannschaft und in der Mitte zwei Reihen blühender Mädchen, und Stunde auf Stunde klang die Stube von frischem Liederschall.

Das ganze junge Völkchen aber, daß just die Schule verlassen hatte und noch nicht in den Krug hinein durfte, stand draußen unter den Fenstern und sang die Lieder ebenso mit, wie im vorderen Zimmer die Ehemänner, nachdem ihnen die Karten zu langweilig geworden waren.

Am anderen Tag hieß es Abschied nehmen.

Aber die Räder des Wagens, der mich nach Dassel führte, und die der Eisenbahn, die mich heim brachte, sangen immer noch die Lieder aus dem Hellental mit, und heute noch ist es mir, als sähe ich die Kulturarbeiterinnen hinter den Birken auf dem roten Wege verschwinden, und ihre Stimmen, die singen in einem fort in mir:

 

”Im Sachsenlande, da bleib’ ich nicht,

Die langen Kleider, die trag’ ich nicht.

Die langen Kleider und die spitzen Schuh’,

Die kommen keiner Dienstmagd zu.”

 

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[1] LÖNS, HERMANN: Das Tal der Lieder und andere Schilderungen. Hannover Gersbach 1916.

[2] LESSMANN 1984, S. 68-72.