Cholera-Epidemie im Kreis Holzminden
Klaus A.E. Weber
Leitender Medizinaldirektor / Amtsarzt a. D.
Cholera Morbus
Die „böse Krankheit“ des Jahres 1850
Die folgenden Ausführungen beinhalten Auszüge aus dem Aufsatz von Klaus A.E. Weber „Die Choleraepidemie des Jahres 1850 im Kreis Holzminden – Medizinhistorische und amtsärztliche Betrachtungen“.[1]
Das Seuchengeschehen des 19. Jahrhunderts wurde von der bis dahin in Europa nicht in Erscheinung getretenen Cholera geprägt.
Als exportierte Infektionskrankheit breitete sie sich im 19. Jahrhundert in vier Pandemiewellen bis nach Europa aus, deren Ausgangspunkt jeweils im britisch kolonialisierten Indien lag.
In Ostindien seit alters her epidemisch wie endemisch vorhanden, gelangte die Cholera kontinuierlich, teils geradezu explosivepidemisch, auf den europäischen Kontinent.
Durch ihren oft klinisch foudroyanten Verlauf wurde die Cholera für die Menschen des beginnenden Industriezeitalters zum Inbegriff der „tödlichen Seuche“ schlechthin.
Die Cholera wurde zur dominierenden Krankheit der damaligen Seuchenlehre sowie im Diskurs über die öffentliche Gesundheitspflege; sie erlangte aber auch eine besondere sozialgeschichtliche Bedeutung.
Bei der Cholera wurde staatlich intervenierend versucht, die im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit entwickelten Prinzipien der Quarantäne, Isolierung, Desinfektion, Handelssperre und des Cordons sanitaire anzuwenden.
Für die Obrigkeit war es wesentlich, durch Bekanntmachungen, Reglements und Belehrungen über die gegen die Cholera anzuwendenden Schutz- und Verhaltensmaßregeln öffentlich zu informieren und auch zu sanktionieren.
Auch im Land Braunschweig veränderte die Seuche während des 19. Jahrhunderts für einige Jahre das politische, soziale und kulturelle Leben, aber auch das Rechtsgefüge und Medizinalwesen.
Ätiologische und klinische Aspekte der "epidemischen Brechruhr"
Im 19. Jahrhundert bestand ein breites, widersprüchliches Spektrum an Deutungen und Wahrnehmungen der fremdartigen Cholera.
In den 1850er Jahren hatte sich zu deren epidemischem Auftreten in der Fachwelt eine kontagionistische „Trinkwassertheorie“ und eine eher gegenläufige miasmatische „Bodentheorie“ bzw. „Lokalisationstheorie“ herausgebildet.
Als Ursache der Cholera war zunächst spekulativ-hypothetisch ein auch medizinalkartographisch fassbarer "genius epidemicus loci" in Form eines „Miasmas“ (Ansteckungsstoff) vermutet worden, einer verseuchenden Ausdünstung des Bodens.
1849 wurde im "Braunschweigischen Magazin" ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem gehäuften Auftreten der Cholera und der vorherrschenden "Elektricität in der Atmosphäre" diskutiert.
1883/84 war es dann Robert Koch, der den "Komma-Bacillus" (Vibrio comma) als ätiologisches Agens aus dem Darm Verstorbener in Reinkultur anzüchtete und zugleich die epidemiologischen Bedingungen für dessen Ausbreitung beschrieb.
Die Cholera manifestiert sich noch heute als eine hochansteckungsfähige Akutinfektion der menschlichen Darmschleimhaut, verursacht durch das Bakterium Vibrio cholerae O:1, Biovar cholerae, dem historisch wichtigsten Vertreter der drei bekannten humanpathogenen Biovare.
Das Bakterium, dessen einziges natürliches Reservoir der Mensch ist, wird hauptsächlich als Schmutz-Schmier-Infektion über direkten Kontakt mit erregerhaltigem Stuhl (fäkal-orale Mensch-zu-Mensch-Übertragung) oder durch den Verzehr kontaminierter Lebensmittel einschließlich fäkal verunreinigten Trinkwassers übertragen.
Das klinische Bild der Durchfallerkrankung Cholera wird maßgeblich von der reiswasserähnlichen Diarrhöe charakterisiert und kann unbehandelt schnell lebensbedrohlich werden.
Die Inkubationszeit ist mit wenigen Stunden bis etwa 5 Tagen relativ kurz.
Seuche der aufkommenden Industriegesellschaft
und des sich ausweitenden Welthandels
Zu Beginn der 1830er Jahre kam es erstmals in Mitteleuropa zu einer bis dahin fast unbekannten Seuche, zur „Cholera asiatica“.
Die unbekannte Plötzlichkeit, Geschwindigkeit, Wahllosigkeit und Fremdheit des epidemischen wie klinischen Auftretens, verbunden mit einer enorm hohen Letalität, die Unkenntnis der Ätiologie und der Übertragungswege, die körperlichen Verfallsprozesse und der enorme Gestank führten zu einer besonderen öffentlichen und politischen Wahrnehmung der importierten Cholera.
Die Cholera trat ihren Weg vom indischen Subkontinent nach Westen in mehreren pandemischen Seuchenzügen an, begleitet von epidemischen Wellen mit räumlich unterschiedlicher Dauer, Verbreitung und Intensität.
Ihre Wanderungen vollzogen sich relativ schnell entlang traditioneller Verkehrs- und Handelswege, vorzugsweise entlang großer Flussläufe.
Die kolonialpolitische Konsolidierung mit erheblicher ökonomischer Erweiterung und technikgestützter Beschleunigung des Austauschs von Menschen und Waren begünstigte die ungehemmte Dynamik der Choleraepidemien.
Neben anderen, medizinhistorisch unbekannten Faktoren, förderten maßgeblich die neuen, vor allem schnelleren Transportmittel für Personen und Güter - Eisenbahnen, Eisen- und Dampfschiffe - sowie der Chausseebau die rasche Weiterverbreitung der Cholera.
Herzog Wilhelm erlässt 1831 vorsorglich Reglements zur Abwendung der Cholera
Vorerst kaum beachtet näherte sich erstmals im Frühjahr 1831 die Cholera über baltische Häfen entlang der Ostsee auch den mittel- und westeuropäischen Grenzen.
Entgegen der Bedrohungslage fühlten sich die aufgeklärten, fortschrittsbewussten Länder - wie das Herzogtum Braunschweig - ob ihrer vermeintlich modernen, auch naturwissenschaftlichen und medizinischen Errungenschaften anfangs sicher und daher eher unbesorgt.
Angesichts der daraus erwachsenen Gefahrenverleugnung überzog die Cholera 1831/32 massiv die Königreiche Preußen und Hannover.
Am 17. Juni 1831 wurde angesichts der zunehmenden Bedrohung durch die Choleraausbreitung infolge der "schnellen Fortschritte, welche die unter dem Namen der asiatischen Cholera bekannte Krankheit in der neuesten Zeit gemacht hat, ihr Erscheinen an den östlichen Grenzen des Königreichs Preußen und namentlich in einigen Häfen der Ostsee, fordern Uns dringend auf, diejenigen Maßegeln anzuordnen, von denen sich hoffen lässt, daß sie die Verbreitung des Uebels über die Grenzen des Herzogthums verhüten und nachdem die contagiöse Natur der Krankheit außer Zweifel gestellt worden war", vom erst wenige Monate regierenden Herzog Wilhelm vorsorglich eine 8 Paragraphen umfassende Verordnung erlassen, "die gegen das Eindringen der Cholera in die hiesigen Lande zu treffenden allgemeinen Maßnahmen betreffend".
Hierbei handelte es sich um ein abgestuftes staatliches Interventionskonzept der Vorsorge- und Notfallplanung noch während der proaktiven Epidemiephase im Land Braunschweig.
Wie im Königreich Preußen so bestand auch im Herzogtum Braunschweig als Grundlage für seuchenbehördliche Entscheidungen die Auffassung, dass die Cholera hochkontagiös sei, mit Verweis auf die "in den benachbarten Staaten [Anm.: Preußen] angeordneten kräftigen und zweckmäßigen Maßregeln".
Mit der 1831 geschaffenen "Herzoglichen Immediat-Commission zur Abwendung der Cholera" wurde im Land Braunschweig eine staatliche Sonderkommission implementiert, die über weitreichende Verwaltungs- und Vollzugsbefugnisse verfügte.
Den Polizeibehörden oblag es, die herzoglichen Seuchenreglements durchzusetzen, wofür u.a. vorgesehen war, unverzüglich "Kreis-" und "Districts-Commissionen" in örtlicher Zuständigkeit zu organisieren, an den Hauptzollämtern "Contumazanstalten2 vorzurichten und ggf. "Nebenzoll-Aemter und Straßen auf der bedroheten Grenze" zu schließen.
Zudem wurden alle Polizeibehörden und Grenzzollbeamte strikt angewiesen, "Personen, Waaren und andere Gegenstände, welche von Gegenden kommen, wo notorisch die Cholera herrscht, oder kürzlich geherrscht hat, also namentlich aus Russland, Polen, Gallizien und den Häfen von Danzig und Riga, zurückzuweisen, wenn nicht durch gehörig documentirte Gesundheitsatteste der benachbarten Staaten dargethan ist, daß sie den Ansteckungsstoff nicht mit sich führen."
Basierend auf der an Preußen angelehnten Außenpolitik und dem damit eng verbundenen Erfahrungstransfer orientierte sich Herzog Wilhelm an der 2von der Königlich Preußischen obern Medicinal-Behörde erprobt gefundene[n] Anweisung zur Erhaltung der Gesundheit und zur Verhütung der Ansteckung bei etwa eintretender Cholera-Epidemie".
Die herzogliche Allgemeinverordnung vom 17. Juni 1831 enthielt daher eine gleichlautende "Anweisung zur Erhaltung der Gesundheit und Verhütung der Ansteckung bei etwa eintretender Cholera-Epidemie".
Quasi ein modulares Planungssystem mit allgemeinen und speziellen Handlungsvorgaben zur staatlichen Gefahrenabwehr umsetzend, wurde noch am gleichen Tage die "Verordnung über das bei der Annäherung der Cholera oder bei dem Ausbruche derselben in dem Herzogthume Braunschweig zu beobachtende Verfahren" erlassen.
Die Spezialverordnung enthielt umfassende sanitätspolizeiliche Anordnungen für die epidemische Lage, "daß die Cholera einem Orte innerhalb des Landes bis auf eine Entfernung von 10 Meilen sich nähert (§§ 1–9) und des wirklich Statt gefundenen Ausbruchs der Cholera in einem Orte" (§§ 10–53).
Vorgeschrieben wurde, dass nach erfolgter Genesung "die Krankgewesenen noch einer 20tägigen Contumaz" (Quarantäne) in einem öffentlichen Kontumazgebäude zu unterwerfen sind (§ 41).
Unter koordinierender Aufsicht der herzoglichen Immediatkommission waren besondere Schutzkommissionen mit umfänglichem Aufgabenkatalog auf Distrikts- und kommunaler Ebene (unter ärztlicher Mitwirkungspflicht) zu bilden, die sanitätspolizeilichen "Districts-" und "Orts-Commissionen".
1831 wurde auch für den Weserdistrikt eine Aufsicht führende "Herzogliche Distriktskommission zu Holzminden" eingerichtet, die sechs Ortskommissionen einsetzte, der in Holzminden vier, in Fürstenberg, Eschershausen, Grünenplan, Ottenstein und Stadtoldendorf jeweils drei Mitglieder angehörten.
Durch eine zweite Spezialverordnung wurden weitergehende Cholera-Abwehrmaßnahmen veranlasst, so auch die Anlage von "Contumaz-Anstalten" an den Sperrungslinien.
Angesichts der "Ungewissheit der Ereignisse" und insbesondere der "bevorstehenden Versendungen der für die herannahende Sommermesse bestimmten Waaren" folgte am 23. Juni 1831 die nächste Spezialverordnung mit einschneidenden Einreisebestimmungen, nach denen spezifizierte "Gesundheits-Atteste" für Personen (Reisende und ihr "Bagage"), "Waaren und Thiere" verlangt wurden, ausgestellt von den Ortspolizeibehörden.
Zudem waren im Land Braunschweig auch Vorkehrungen zur Isolierung von an Cholera erkrankten Personen zu treffen (staatliche Cholerahospitäler zur Quarantäne).
Solche "Contumazanstalten" wurden im Weserdistrikt am 31. August 1831 von der Distriktskommission in Holzminden vorgesehen, nach deren Vorsorgeplanung jeweils ein Cholerahospital in Holzminden, Bevern, Stadtoldendorf, Eschershausen, Ottenstein und später auch in Grünenplan eingerichtet werden sollte.
Es bleibt allerdings ungewiss, ob die geplanten Kontumazanstalten tatsächlich errichtet wurden.
In unterschiedlicher Regelungsdichte und mit unterschiedlichen Regelungsinhalten folgten im Land Braunschweig von Juni bis Ende Oktober 1831 weitere 6 Vorschriften "zur Abwendung der Cholera", wobei im September ein besonderes Regelungserfordernis gesehen wurde.
Als zum Spätsommer hin die Choleraepidemie in den "jenseits der Elbe belegenen Preußischen Provinzen" eine erhöhte epidemische Ausbreitungsdynamik entfaltete und daher die Besorgnis einer Choleraeinschleppung weiter zunahm, erließ Herzog Wilhelm am 16. September 1831 mit der "Verordnung, geschärfte polizeiliche Maßregeln wegen Abwendung der Cholera betreffend" deutlich härtere sanitätspolizeiliche, mit Geld- und Gefängnisstrafen bewehrte Maßnahmen hinsichtlich der Einreise in das von der Choleraepidemie bis dato verschont gebliebene Herzogtum und zum dortigen Aufenthalt (§§ 1-5).
Dabei wurde auch das übliche Wandern „einheimischer“ und „fremder“ Handwerksgesellen erheblich eingeschränkt (§ 6).
Zumindest in dieser zugespitzten Epidemiephase bemühte sich das Herzogtum Braunschweig auch um eine bilaterale Übereinstimmung mit der Königlich Hannoverschen Regierung, wie es die braunschweigische Spezialverordnung vom 17. September 1831 erkennen lässt.
Vergleichbar mit dem preußischen Maßnahmenkatalog zur "Abwendung der Cholera" wurden im Land Braunschweig mit der "Verordnung, die Bestrafung der Vergehungen gegen die zur Abwendung der Cholera erlassenen Vorschriften betreffend" sanitätspolizeilich weiter verschärfend sogar "Strafen mit dem unbeschränkten Gebrauche der Waffen (§ 1) und Strafmaße von bis zu 10 Jahren Freiheitsstrafe bis hin zur Todesstrafe angedroht (§§ 2, 5)).
Nachdem die bis dahin von den Königl. Preußischen Behörden angenommene Contumazzeit auf einen fünftägigen Zeitraum herabgesetzt worden war, erließ Herzog Wilhelm am 20. September 1831 eine Authentische Declaration der Verordnung vom 9ten d. M., die geschärften polizeilichen Maßregeln wegen Abwendung der Cholera betreffend".
Schließlich wurde bei weiterer epidemischer Entspannung mit der am 25. Oktober 1831 erlassenen "Verordnung, die Modifikationen verschiedener gesetzlicher Bestimmungen wegen Abwendung der Cholera betreffend" eine Reihe landesrechtlicher Bestimmungen an die neue epidemiologische Kenntnislage angepasst, gelockert oder gar völlig aufgehoben.
Kreis Holzminden
Ein epidemischer Brennpunkt der „bösen Krankheit“ des Jahres 1850 im Herzogtum Braunschweig
Gleichwohl die wiederholt mit Schmutz und Elend einhergehenden Epidemiewellen vor allem städtische Verdichtungsräume heimsuchten und dort bislang unbekannt hohe Erkrankungs- und Sterberaten hinterließen, blieben dennoch auch die Bewohner von Dörfern und Kleinstädten nicht von der Cholera verschont.
Ihnen waren unzulängliche Verhältnisse im sozial- und sanitärhygienischen Lebensumfeld als Voraussetzung für die epidemische Ausbreitung der Cholera gemeinsam, wie mangelhafte Wasserversorgung und Trinkwasserqualität, fehlende Abwasserbeseitigung, Überbevölkerung und Wohnungsnot, Nahrungsmittelknappheit und das neuartige Phänomen des Pauperismus.
Nach den Cholerajahren 1831/32 und 1836/37 erreichte, erneut von Hinterindien ausgehend, um 1847 die dritte Cholerapandemie Zentraleuropa, mit zwei epidemischen Wellen bis um 1854 andauernd.
Sich vor allem entlang moderner Reise- und Handelslinien weiter westlich ausbreitend, erreichte die Cholera schließlich auch das Herzogtum Braunschweig, der 1850 landesweit 10.475 Personen erlagen.
Gnadenlos die sozial- und sanitärhygienischen Mängel und Fehler ausnutzend, forderte die Cholera in vorzugsweise während der Sommermonate wiederkehrenden Seuchenzügen ihre Opfer, wie im Spätsommer und Herbst des Jahres 1850 in zahlreichen Gemeinden des noch jungen Kreises Holzminden.
Wie Überlieferungen und archivalische Quellen erkennen lassen, verfielen Cholerakranke, soeben noch scheinbar völlig gesund, innerhalb weniger Stunden und verstarben nach Stunden oder Tagen qualvoll.
Der Choleratod war beim plötzlichen Verlust der Kontrolle über die Ausscheidungsfunktion ein übelriechender, ein wahrhaft schmutziger Tod.
Aufgrund des "Wiederausbruchs der Cholera" und des hierdurch bedrohten Staatswohls erließ König Ernst August am 09. August 1850 eine "Authentische Declaration, die Anwendbarkeit des § 5 der Verordnung vom 1sten October 1831 über verschiedene Gegenstände der Rechtspflege auf den Fall des Ausbruchs der Cholera betreffend".
Danach bestanden landesherrlich offenbar erhebliche Zweifel darüber, "inwiefern die in der Verordnung vom 1sten October 1831 über verschiedene Gegenstände der Rechtspflege auf den Fall des Ausbruchs der Cholera enthaltenen Bestimmungen über die erleichterten Formalitäten letztwilliger Verfügungen nach Aufhebung der Maßregel der förmlichen Absperrung der von der Cholera ergriffenen Häuser oder Ortschaften als noch in rechtlicher Kraft bestehend anzusehen sein, bei dem in einigen Theilen Unseres Königreichs erfolgten Wiederausbruch der Cholera aber eine sofortige Beseitigung dieser Zweifel durch das Staatswohl dringend geboten ist".
Nach dem Landesverfassungsgesetz vom 05. September 1848 wurde bestimmt, dass dann, "wenn in einem Orte nach dem Zeugnisse des zuständigen Physicus gleichzeitig oder in schneller Aufeinanderfolge mehrere Cholerafälle sich ereignen", für diesen Ort "die im §. 5 der Verordnung vom 1sten October 1831 über verschiedene Gegenstände der Rechtspflege auf den Fall des Ausbruchs der Cholera enthaltenen Vorschriften über die Errichtung letztwilliger Dispositionen" öffentlich wirksam werden, sofern die "zuständige Obrigkeit solches durch einen sowohl an der Gerichtsstelle als in dem betreffenden Orte öffentlich anzuschlagenden Erlaß ausspricht" (§ 1).
Unter Wahrung einer sechsmonatigen Beobachtungsfrist sollten die Bestimmungen des § 5 der Verordnung vom 01. Oktober 1831 dann unwirksam werden, "wenn nach der Genesung oder Beerdigung des letzten Kranken zehn volle Tage verstrichen sind, ohne dass sich ein neuer Erkrankungsfall ereignet“ habe (§ 2).
Da für den Zeitraum 1849-1852 keine herzoglichen Verordnungen zur Choleraabwehr in den Verordnungssammlungen "für die Herzoglichen Braunschweigischen Lande" hinterlegt sind, kann – analog zur oben erwähnten hannoverschen Deklaration vom August 1850 – davon ausgegangen werden, dass die 1831 bereits festgelegten staatlich-rechtspflegerischen Grundpositionen und vorsorglich erlassenen Verordnungen auch während der sich 1850 im Braunschweiger Land ausbreitenden Choleraepidemie bestandskräftig blieben und die fast 20 Jahre zuvor beschriebenen Maßnahmen zur "Abwendung der Cholera" keine grundlegende Modifikation erfuhren.
Von Juli bis September 1850 verbreitete sich die Cholera entlang des Leinetals und forderte u.a. in Einbeck, Moringen, Sievershausen und Uslar zahlreiche Todesopfer.
In dieser sich zuspitzenden Phase der regionalen Choleraausbreitung hielt es der "Stadt-Magistrat" von Holzminden, vertreten durch den 1835 gewählten Bürgermeister Friedrich Bock und das Magistratsmitglied Ludwig Dülfer, für "zweckmäßig", durch die amtliche Bekanntmachung vom 14. August 1850 die Stadtbewohner umfassend auf "Schutz- und Verhaltungsmaaßregeln" und auf "Regeln für den Fall, daß Jemand an der Cholera erkrankt" hinzuweisen.
Der städtischen Deklaration wurde die detaillierte Bekanntmachung des "Herzoglichen Braunschweigisch-Lüneburgischen Ober-Sanitäts-Collegiums" vom 15. Juli 1850 quasi als Landesstandard beigegeben.
Nur 5 Tage später trat am nordöstlichen Sollingrand, in der Gemeinde Heinade, der erste Choleratodesfall im Kreis Holzminden auf.
Mitte Oktober, also 2 Monate nach der Bekanntmachung des Magistrats, sollte die Cholera erstmals auch in der weiter westlich gelegenen Kreisstadt Einzug halten.
Als Ende August 1850 die möglicherweise über die Messestadt Braunschweig importierte Cholera in den rund 39.400 Einwohner zählenden Kreis Holzminden gelangte, begegneten die Kreiseinwohner erstmals konkret der fremden Seuche.
Die Choleraepidemie grassierte hier clusterartig in 29 "angesteckten Orten" mit insgesamt ca. 19.500 Einwohnern.
Knapp 40 % der 74 Ortschaften des Kreises wurden von der schweren Choleraepidemie heimgesucht, wobei ein erheblicher Anteil der von der tückischen Infektionskrankheit Ergriffenen binnen weniger Stunden und Tagen oder wenige Monate später an körperlichen Spätfolgen verstarb.
Sofort nach Beginn des Choleraausbruchs im Kreis Holzminden sah sich Wilhelm Pockels, erster Kreisdirektor der herzoglichen Kreisdirektion, veranlasst, am 20. August 1850 eine amtliche Bekanntmachung herauszugeben.
Wie den mortalitätsstatistischen Berichten der Kreisdirektion und dem zusammenfassenden Hauptbericht des "Herzoglichen Ober-Sanitäts-Collegiums zu Braunschweig" zu entnehmen ist, verstarben an der „asiatischen Cholera“ vom 19. August bis zum 21. Dezember, also innerhalb von nur 125 Tagen, insgesamt 352, nach der ausgewerteten Literatur vermutlich sogar mehr Personen (fast 1 % der Kreiseinwohner) unterschiedlichen Alters und Geschlechts und mit unterschiedlichem sozioökonomischem Status.
Belastbare Schriftquellen zu lokalen Erkrankungshäufigkeiten standen nicht zur Verfügung.
Wie aus der Literatur bekannt ist, betraf im 19. Jahrhundert die Cholera in der Regel etwa 1 % der Einwohner und von den Erkrankten verstarben binnen ein bis 6 Tage etwa 50–60 %; bei Kindern und alten Menschen war die Sterblichkeit mit bis zu 90 % am größten.
Legt man die durchschnittliche Letalitätsrate zugrunde, so dürften schätzungsweise bis zu 700 Kreiseinwohner von der Cholera infiziert und/oder an ihr erkrankt gewesen sein.
Die für den Kreis Holzminden epidemiologisch ausgewerteten Archivdaten legen nahe, dass die Cholera während etwa 4½ Monate - mit erkrankungstypischem Maximum in den Spätsommermonaten September und Oktober – wellenartig mit räumlich unterschiedlicher Dauer, Verbreitung und Intensität auftrat.
Die Kreisdirektion Holzminden war als staatliche Mittelbehörde in jener Cholerazeit des Jahres 1850 gehalten, dem Staatsministerium in Braunschweig als Oberbehörde regelmäßig über die "von der Cholera befallenen Ortschaften" Bericht zu erstatten.
Die im Nds. Staatsarchiv Wolfenbüttel geführten Akten zur" Speciellen Uebersicht der Cholera-Sterbefälle im Kreise Holzminden" und der Hauptbericht des "Ober-Sanitäts-Collegiums zu Braunschweig" erlauben eine kleinräumige epidemiologische Auflösung der Sterbehäufigkeit und der zeitlichen wie räumlichen Dimension in den von der Cholera betroffenen Gemeinden der Amtsbezirke Holzminden, Stadtoldendorf, Eschershausen und Ottenstein.
Vom 29. August bis zum 16. Oktober 1850 berichtete die Kreisdirektion nachweislich achtmal dem Staatsministerium mit namentlicher Auflistung lokaler Choleratodesfälle.
Danach waren mindestens 29 Gemeinden von der Cholera-Epidemie betroffen.
Wie die epidemiologische Interpretation der Kreisdirektionsberichte zeigt, traten lokal und zeitlich differenziert kleinere wie größere Cholera-Cluster auf.
Einige geographisch weit abgelegene Dörfer, wie beispielsweise Hellental oder Emmerborn, blieben hingegen zumindest von Cholera-Todesfällen verschont, ebenso Deensen am nördlichen Sollingrand.
Anhand der amtlich festgehaltenen Sterbefälle kann für den Kreis Holzminden von einer landesunterdurchschnittlichen Mortalitätsrate ausgegangen werden.
Hingegen aber lagen die Gemeinden Lenne, Linse, Wangelnstedt, Linnenkamp, Heinade und Holzen deutlich über der landesdurchschnittlichen und Kirchbrak, Scharfoldendorf, Dielmissen, Braak, Wegensen und Lüerdissen über der kreisdurchschnittlichen Cholera-Sterbefallrate, wodurch hauptsächlich diese die Krankheitslast der 1850er Choleraepidemie trugen.
Vermutlich war die Cholera eine der Haupttodesursachen, wenn nicht gar die hauptsächlichste Todesursache im Kreis Holzminden des Jahres 1850.
Nach der für den Zeitraum 1830-1946 dargestellten „Entwicklung der Geburten und Sterbehäufigkeit im Kreise Holzminden“ gab es 1850 bei einer vergleichsweise eher geringen Geburtenrate eine auffallend hohe Zahl von Sterbefällen.
Ein epidemiologisch relevanter Faktor für die lokalepidemischen Choleraausbrüche im Kreis Holzminden kann in der wesentlichen Verbesserung der Verkehrsverhältnisse nach 1830 gesehen werden, insbesondere in dem zu Beginn des 19. Jahrhunderts üblich gewordenen Chausseebau.
Hierbei sind die zwischen größeren Orten angelegten Fernverkehrsstraßen, wie beispielsweise die zu Beginn des Jahres 1832 in Betrieb genommene neue Chaussee über den Solling, der Bau der Hilsstraße um 1840 und die neuen Post-Course als maßgeblich in Betracht zu ziehen, aber auch der bereits um 1840 aufgenommene braunschweigische Straßenausbau im Raum von Stadtoldendorf und Deensen.
Von 1842 bis 1845 war der Ausbau der „Sollingstraße“ von Arholzen über Deensen nach Heinade und Merxhausen erfolgt.
Bestrebt, "Coursvermehrungen und Verbesserungen im Postenlaufe" sowohl für die Personenpost als auch für die "Päckereipost" herbeizuführen, hatte die "Herzogliche Braunschweigisch-Lüneburgische Post-Direction" Ende September 1835 auch die "Holzmindener Course" weiter verbessert, unter Beibehaltung der übrigen Reisegelegenheiten zwischen Holzminden und Braunschweig.
Als weitere Eintrittspforte kann der in Verbindung mit der Dampfschifffahrt auf der Weser 1837 in Holzminden angelegte Hafen und der Beginn der Weserschifffahrt in Frage kommen.
Die 1842 in Hameln gegründete „Gesellschaft Vereinte Weserdampfschiffahrt“ unterhielt seit März 1846 in Holzminden einen fahrplanmäßigen Haltepunkt für ihre 5 Dampfschiffe, von denen auf dem Dampfschiff „Hermann“ die Cholera dann Anfang November 1850 auftreten sollte.
Wütende Cholera-Epidemie in Heinade und Merxhausen
Die am nordöstlichen Sollingrand unmittelbar benachbarten Bauerndörfer Heinade und Merxhausen wurden von der schweren Seuche heimgesucht.
Die amtliche Registrierung für den Zeitraum vom 19. August bis zum 23. September weist für Heinade 27 Cholera-Sterbefälle aus; die Mortalitätsrate von 5 % war mithin eine der höchsten im Kreisgebiet.
Genealogisch konnten für Heinade und Merxhausen insgesamt 31 Cholerasterbefälle ermittelt werden, nach der amtlichen Statistik traten hingegen 34 Sterbefälle auf.
Der früheste für Heinade dokumentierte Cholerasterbefall datiert vom 19. August, der für Merxhausen vom 24. August.
Der Choleraausbruch hielt in Heinade über 36 Tage bis zum 23. September an, während er in Merxhausen nur über 11 Tage bis zum 02. September andauerte.
Allein am 01. September starben in Heinade 4 Personen den schmutzigen Choleratod, eine maximale Häufung täglicher Todesfälle in einem nördlichen Sollingranddorf.
Dabei reicht die Altersspanne der in Heinade und Merxhausen an der Cholera Verstorbenen über alle Alterstufen hinweg, vom ersten bis zum 79. Lebensjahr.
Die lokalen Cholerainfektionen wurden vermutlich vom benachbarten hannoverschen Dorf Mackensen über die bewachte Landesgrenze hinweg aus dem Königreich Hannover eingeschleppt.
In Hellental für „ewige Zeiten“ Dank für die Errettung von der Cholera
Das weit abgelegene Waldarbeiter- und Landhandwerkerdorf Hellental im „Alten Tal der Glasmacher“ im Solling blieb von der Cholera-Epidemie verschont.
Die tiefe Abgeschiedenheit als vorteilhafte geographische Barriere und die nur mangelhafte verkehrsräumliche Erschließung des Hellentals, aber auch die Berglage des Sollingdorfes mit ständig abfließendem Quellwasser wirkten sich gegenüber einem Import der Cholera offenbar primärpräventiv für die ansonsten Not leidenden Dorfbewohner aus.
Aus tiefem religiösem Dank heraus, dass durch „göttliche Fügung“ die fürchterliche Cholera-Epidemie in Hellental keine Todesopfer forderte, fasste die Hellentaler Gemeindevertretung den Beschluss, für „ewige Zeiten“ jährlich für die Errettung von der Cholera zu danken.
Ab 1851 wurde der erste Mittwoch im September als örtlicher Buß-, Bet- und Gedächtnistag bestimmt.
Der „Choleratag“ wurde danach jährlich würdigend mit einem größeren gemeinsamen Abendmahlgang in der Hellentaler Dorfkapelle begangen.
In einer Erzählung zeichnet Pastor Querfurth, allerdings erst mehr als 60 Jahre nach der Cholera-Epidemie, aus der Erinnerung heraus die lokalen Umstände und Auswirkungen jener Choleratage des Sommers 1850 nach.
Beurteilung und Behandlung der Cholera
Dem amtlich bestellten Physikus oblagen bei der Feststellung, Überwachung und Bewältigung der Cholera besondere hoheitliche Aufgaben.
Die Frage nach den Behandlungsmethoden, die bei den im Kreis Holzminden von der Seuche Betroffenen zur Anwendung kamen, kann mangels schriftlicher Quellen nur vergleichend betrachtet werden.
Bekannt ist, dass im 19. Jahrhundert nur wenige, seit der frühen Neuzeit kaum weiterentwickelte symptomatische Therapieformen zur Verfügung standen, hauptsächlich beruhend auf den bei inneren Erkrankungen geübten Behandlungsverfahren mit „Allerweltshilfsmittel“.
Die Beurteilung und Behandlung der Cholera lag aber nicht ausschließlich nur in den Händen einer akademisch gebildeten Ärzteschaft.
Ärzte wie andere Behandelnde jener Zeit verstanden weder die Ätiologie noch die Morbidität dieser Krankheit und brachten nur unzureichende bis hin individuell auch katastrophale Behandlungsergebnisse hervor.
Die Choleraerkrankung wurde bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein ohne Kausalerkenntnis im Wesentlichen „diätetisch“ und arzneitherapeutisch behandelt.
Neben vielfältigen "Vorbauungs-Maßregeln" und wenig alltagstauglichen Empfehlungen zur "angemessenen Diät zum Schutze wider die Cholera" bestanden gängige Therapieformen hauptsächlich in einer traktierenden Kombination von Aderlass ("Venäsection") und der Gabe u.a. von Emetika, Laxantia und/oder "Calomel" (Quecksilberchlorid).
Zudem wurde Opium und Morphin verabfolgt, was zumindest zu einer symptomatischen Linderung der heftigen Muskel- und Bauchkrämpfe führte.
Auch wurden physikalische Behandlungsverfahren (Wärme- und Kälteanwendungen) als drastische Reizmethoden ärztlich propagiert, seit 1832 die komplikationsbehaftete Infusion von Kochsalzlösungen als „ultima ratio“.
Teilweise widersprüchlich wurden verschiedene Arzneirezepturen in Tropfen- oder Pulverform sowie Tinkturen empfohlen, aber auch Naturheilverfahren, die allerdings in der Fachwelt heftig widerstreitend gegeneinander gesetzt wurden.
Der im Herzogtum Braunschweig am 17. Juni 1831 zur Choleraabwehr erlassenen Allgemeinverordnung war eine mehrseitige ärztlich-diätetisch aufklärende "Anweisung zur Erhaltung der Gesundheit und Verhütung der Ansteckung bei etwa eintretender Cholera-Epidemie" beigefügt.
Ganz den Leitbildern der zeitgenössischen bürgerlichen Kultur entsprechend, beinhaltete die „Anweisung“ ausführliche Verhaltensregeln zur allgemeinen geistigen und körperlichen Gesundheit, zu Nahrungsmitteln und Getränken, zur Bekleidung und zu "Ausschweifungen", bei Berührung von (kontaminierten) Gegenständen, zu desinfizierenden Maßnahmen im Wohnumfeld und zum Umgang mit Erkrankten und Verstorbenen sowie eine ausführliche Beschreibung des Krankheitsverlaufs.
Den medikamentösen Behandlungsstandard jener Zeit widerspiegelnd, enthielt die Verordnung zugleich ein "Verzeichniß einiger Arzneikörper, von welchen bei der epidemischen Brechruhr (cholera morbus) Gebrauch gemacht wird - von Aether phosphoratus bis Zimmt".
Bei den lokalen Choleraausbrüchen hatten Kreis Holzminden die Gemeinden sowohl für die Arzneimittel als auch für die ärztlichen Behandlungen ihrer teils sozial bedürftigen Dorfbewohner aufzukommen, was für einige der ärmeren Kommunen eine erhebliche Mehrbelastung ihres Gemeindehaushalt bedeutete.
Vom Landchirurgen Ahrt aus Stadtoldendorf waren Choleraerkrankte in den Gemeinden Heinade und Linnenkamp behandelt worden, die jedoch das Honorar in Höhe von 7 Reichstalern und 20 Groschen nicht begleichen konnten.
Mit ihrem Beihilfeantrag vom 28. März 1851 erbat die Gemeinde Heinade beim Braunschweiger Staatsministerium eine Gesamtkostenerstattung in Höhe von 31 Reichstalern und 6 Groschen.
Drei Monate später, am 24. Juni 1851, wurde der Gemeinde eine staatlich anteilige Erstattung von 15 Reichstalern bewilligt.
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[1] Erschienen im Jahrbuch für den Landkreis Holzminden, Bd. 25, 2007, S. 163-190; hier auch Quellenverzeichnis.