"Die Epidemie legt Grenzen unserer Zivilisation offen"

Klaus A.E. Weber

Leitender Medizinaldirektor / Amtsarzt a. D.

 

"Und wenn sonst nichts weiter stabilisiert ist, so doch der Kapitalismus" [4]

 

Als langjähriger Amtsarzt, Sozialmediziner und Dozent hat der Autor seit mehreren Jahren, wie auch andere Kollegen und Autoren, vor der Gefahr einer Pandemie wiederholt eindringlich gewarnt.

Denn der Öffentlichen Gesundheitsdienst - mithin Gesundheitsämter - wurde in den letzten Jahrzehnten wirtschafts- und parteipolitisch in neoliberaler Ideologie systematisch wie vorsätzlich zurückgefahren bis hin demontiert.

Seit 1975 als Labormitarbeiter im Universitätsklinikum Heidelberg, dann als Amtsarzt beim Gesundheitsamt der Landeshauptstadt Wiesbaden und später als Leiter des Gesundheitsamtes Landkreis Holzminden (1992-2017) und des Gesundheitsamtes Landkreis Hameln-Pyrmont (2012-2017) sowie 1993-2020 als Dozent für Infektionsschutz und Seuchenhygiene an der Akademie für Öffentliches Gesundheitswesen Düsseldorf war der Autor medizinisch, epidemiologisch und historisch in Theorie und Praxis immer wieder mit klinisch schwer verlaufenden Epidemien und dem globalen Wandel von Infektionskrankheiten mittelbar oder unmittelbar konfrontiert.

 

Worüber zu Anfang des Jahres 2020 in der Stunde der freien Exekutive im Krisensturm angesichts einer "faktenfreien Zeit" zu sprechen gewesen wäre ...

Während von einer tickenden Zeitbombe für die öffentliche Gesundheit zu sprechen wäre, infolge

  • der fatalen marktwirtschaftlichen Strategien zuckerhaltige Getränke produzierenden Lebensmittelindustrie bzw. Junkfood-Konzernen öffentlich zu sprechen wäre, weil in den nächsten Jahren etwa die Hälfte der Weltbevölkerung übergewichtig oder fettleibig ist,

  • der weltweiten Adipositas für einen rasanten Anstieg von Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Krebs sorgt,

  • einer zunehmenden, die Lungen und das Herz-Kreislauf-System belastenden Luftverschutzung mit Feinstaublastung die Gesundheit gefährdert,

wird hingegen eine andere gesundheitliche Herausforderung als "schwerstes Gesundheitsproblem" alleinig in den Vordergrund politischen Handelns gestellt: COVID-19-Pandemie │ SARS-CoV-2.

In vielfacher Hinsicht ist es spätestens seit Beginn des Jahres 2020 eine prekäre, bedrohliche und beklemmende Zeit, nicht nur im medizinischen, sondern vor allem im zivilgesellschaftlichen, demokratischen und ethischen Sinne - eingefroren im Gehorsam ohne öffentlichen Diskurs.

Es bestenen eine Reihe von Fragen, wie beispielsweise:

  • Da sich nun - auch im Gesundheitssystem, insbesondere im Öffentlichen Gesucheitsdienst, Versäumnisse der Vergangenheit zeigen, wäre deren zukünftsfähige Gestaltung neu zu denken.

  • Wie wahren wir hier demokratische Freiheitsrechte angesichts der Bündelung autoritärer Strukturen im östlichen EUropa?

  • Geht es um einen Verteidigungsfall gegen das Corona-Virus analog der deutschen Notstandsgesetzte?

  • Welche traumatischen Erfahrungen entstehen in dem Ausnahmezustand?

  • Wem nützt die COVID-19-Pandemie und mit welchen Vorteilen? Wer profitiert von der Epidemie oder mißbraucht sie gezielt? Wen benachteiligt die COVID-19-Pandemie?

 

Zur Hygiene

So war die Prävention übertragbarer Krankheiten gerade in der bürgerlichen Epoche des 18. und 19. Jahrhunderts ein recht wirkungsvolles Mittel, im Sinne des sich etablierenden Bürgertums, lohnabhängige Unterschichten sozial zu disziplinieren.

Hierbei entfaltete sich im 19. Jahrhundert eine breit angelegte, bürgerlich geprägte Hygienebewegung.

Die "Hygiene" und ihre Einhaltung und Überwachung wurde gezielt auch zur Disziplinierung und Sanktionierung von Einzelpersonen und Personengruppen eingesetzt.

Hierbei drängt sich geradezu ein historischer Vergleich mit der derzeitigen "Corona-Krise" auf.

So werden momentan demokratische Freiheitsrechte massiv eingeschränkt und systematisch abgebaut - durch Kontaktverbote, "Isolierungen", Ausgangsbeschränkungen, Polizeikontrollen und durch Rechtsbeugung (z.B. § 30 Infektionsschutzgesetz: Quarantäne; rechtswidrige Übermittlung von Gesundheitsdaten an die Polizei und Justiz), Sanktionen und Strafbefehle.

Nach NOLTE geht es kulturwissenschaftlich betrachtet um ein Bedrohungsnarrativ, das bei realer Bedrohung erzeugt wird, um Sicherheitsmaßnahmen rechtfertigen zu lassen.[3]

Dabei sei zu beobachten, dasss die Zivilgesellschaft derzeit weitgehend untertänig und obrigkeitstreu reagiert und stumm bleibt, ohne kritische Analyse und ohne öffentliche Kontroverse bei einseitiger medizinischer Expertenherrschaft.

"Politische Entscheidungen lassen sich nicht aus medizinischem Wissen generieren oder aus physikalischem."[3]

 

„Corona-Krise“ versus politisch-ökonomische Krise und politisches Versagen

In den letzten Wochen und Monate immer wieder zur „Corona-Krise“ - die eigentlich im Kern eine politisch-ökonomische Krise ist - angesprochen, kann kritisch seitens des Autors anhand von Zitaten zusammenfassend Stellung genommen werden.

 

Februar 2020

"Vor einer Ansteckung ist niemand gefeit"

Das zeigt ein Blick in die Geschichte - und gilt bis heute, sagt der Medizinhistoriker Heiner Fangerau in einem Gespräch über begründete Ängste, vorschnelle Hysterie und warum Epidemien wie das Coronavirus die Grenzen der Zivilisation offenlegen.[2]

 

März 2020

Die Welt nach Corona: Wie wir uns wundern werden, wenn die Krise vorbei ist

"Ich werde derzeit oft gefragt, wann Corona denn 'vorbei sein wird', und alles wieder zur Normalität zurückkehrt. Meine Antwort: Niemals."

Es gebe historische Momente, in denen die Zukunft ihre Richtung ändere, so der Trend- und Zukunftsforscher Matthias Horx.

Seine außergewöhnliche und optimistische "Corona-Rückwärts-Prognose" veröffentlicht kress.de als Gastbeitrag │ 19. März 2020


April 2020

Artikel in der Frankfurter Rundschau vom 08. April 2020 zu ihrer Serie

„Die Welt nach Corona. Wie wollen wir morgen leben?“ [1]

  • „Die Corona-Krise ist keine bloß biologische Bedrohung: Ohne die chronische Unterfinanzierung der Gesundheitssysteme wäre das Virus nicht so eine Gefahr. Ohne weltweiten Handel und Tourismus wäre es sicher nicht so schnell verbreitet worden. Inzwischen wissen wir, dass die Abholzung des Regenwaldes, die Zerstörung von Ökosystemen und die Massentierhaltung generell Virus-Epidemien befördert.“

  • „So ging 2013 ein Bericht zur Risikoanalyse zu Pandemien durch den Bundestag. Seit Jahrzehnten haben wir den neoliberalen Raubbau am öffentlichen Gesundheitssystem beklagt.“

  • „Die jahrzehntelange Staatsphobie, die Schwarze Null, die Ellenbogen-Mentalität – all diese Dogmen aus der Hochzeit des Neoliberalismus sollten wir mutig und unwiderruflich infrage stellen. Inzwischen ist klar: Der Markt lebt von Bedingungen, die er selbst nicht schaffen kann, wie Bildung, Straßen, Sozialsysteme oder wissenschaftliche Innovationen.“

  • „Für privatisierte Krankenhäuser muss beispielsweise eine Entprivatisierungsstrategie entwickelt werden. Denn Privatisierung bedeutet, dass Geld für Profite abgezogen wird, das einfach fehlt – bei der Bezahlung der Beschäftigten oder für die Behandlung der Patientinnen und Patienten.“

  • Was derzeit erneut erlebt werden kann, ist die Vergesellschaftung der Verluste, während die Gewinne weiterhin privat bleiben - ausgerechnet in diesen Tagen zahlen Konzerne 44 Milliarden Euro an Dividende aus.

 

«Wir tragen ein Wissen über Angst in uns, und das ist kulturell und historisch geprägt»

Bettina Hitzer │ Expertin für Emotionsgeschichte

«Die Tatsache einer Pandemie in Europa – das ist ein Zustand, auf den wir emotional nicht vorbereitet sind»

Die Historikerin Bettina Hitzer forscht über den privaten und öffentlichen Umgang mit Gefühlen, die mit lebensbedrohlichen Krankheiten verbunden sind.

Interview von Daniel Graf (Text) und Jelka von Langen (Bilder) │ 13. April 2020 │ REPUBLIK republik.ch/2020/04/13, S. 1-10

 

Dezember 2020

Unsicherheit der Gesellschaft │ keine Konfliktbewältigungsstrategien

Textauszüge aus dem in der Frankfurter Rundschau veröffentlichten Gespräch mit dem Astrophysiker Harald Lesch und dem Pfarrer Thomas Schwartz:[6]

  • Erkennbar ist eine „Unsicherheit unserer Gesellschaft“ und, dass wir „keine Konfliktbewältigungsstrategien mehr haben“.

  • „Unsere Gesellschaft kann mit Unberechenbarkeit nicht mehr umgehen.“

  • „Was unser Leben ausmacht, hat mit Unberechenbarkeit und Überraschungen zu tun.“

  • Im Kontext vom „Widerspruch von verordnete Berechenbarkeit versus Unberechenbarkeit des Lebens“ haben „Epidemiologen und Virologen von Anfang an darauf hingewiesen, wie wenig endgültig ihre Einschätzungen sind. Die Wissenschaft ist zwar eine rechnende Methode, muss ihre Ergebnisse aber ständig infrage stellen, um zu weiteren Erkenntnissen zu gelangen. Zur Wissenschaft gehört immer das Fehlerhafte und Unwägbare.“

  • „Es ist schon erstaunlich, mit welcher Verzögerung wissenschaftliche Tatsachen in ihrer vollen Wucht im allgemeinen Bewusstsein ankommen.“

  • „Wir müssen offensichtlich über neue Gesellschaftsmodelle nachdenken“ und rauskommen aus der Privatisierungsschleife, bei der am Ende anonyme Investoren die Rendite einer gesellschaftlichen Anstrengung abschöpfen, nur weil sie das Kapital besitzen, während der Einzelne vor sich hin strampelt.“

  • Irritierend ist, „wie die Finanzindustrie mitten in der Corona-Krise Indizes erreicht, die fast höher sind als vor der Pandemie.“

  • Es besteht ein „Unwillen der Politik durch Umverteilung Sicherheitsräume für viele zu gestalten.“

  • Die ""neolibersale Ich-Blase"

  • „Es muss Formen von wirtschaftlichem Handeln geben, die dem Allgemeinwohl verpflichtet sind … und Gemeingüter, die nicht in den Strudel und die Logik der Ökonomisierung getrieben werden dürfen. Das Gesundheitswesen müsste uns allen gehören und wir alle müssten Verantwortung dafür tragen.“

 

"Die Pandemie ist nur eine Probe für die wirkliche Krise"

Textauszüge aus dem in der Frankfurter Rundschau 2020 veröffentlichten Gespräch mit dem slowenischen Philosophen Slavoj Zizek.[7]

"Soziologe Bruno Latour: Diese Pandemie ist nur eine kleine Probe für die wirkliche Krise, die später noch kommt: andere Viren, globale Katastrophen und vor allem - die Erderwärmuing."

 

Keine gute Diagnose

Denn heute schauen wir in die "neoliberale Ich-Blase", wie Wolfram Eilenberger Ende des Jahres 2020 ausführte.

Stichwortkatalog

  • Ernste Krise der Gesellschaft, ihrer neoliberalen Wirtschaftsideologie und Kommunikation

  • Katastrophenrhetorik

  • Kriegsmetaphorik (militarisierte Sprache)

          Quellmetapher: Krieg  │  Zielmetapher: Medizin

          Krankheit = Krieg  │  Virus = Feind

          „Triage“ │ Zuteilung zugänglicher Gesundheitsleistungen   

  • Dynamik seuchenhygienischer Maßnahmen – mit extremen Eingriffen in die gesellschaftliche Ordnung

  • Mit medizinischen Risikoargumenten und „öffentlicher Gesundheit“ werden Grundrechte und individuelle Freiheitsrechte außer Kraft gesetzt.

  • "Öffentliche Gesundheit" ist auf Kollektive gerichtet: medizinische, gesellschaftliche, (partei-)politische und wirtschaftliche Gemengelage

  • Ungewissheiten │ Handeln ins Unsichere

  • komplexe Gemengelage

  • ständig irgendwelche Schuldigen benennen

  • Messen, Zählen, Vergleichen: „Kurvendiskussion“

  • Die Corona-Pandemie dominiert die Medien (veröffentliche Nachrichten) und Tagesgespräche (private Nachrichten)

  • Wisenschaftlicher und parteipolitischer Diskurs bei Maßnahmen [5]

  • Biopolitik: politische und digitale Zugriffe auf das Leben (Foucault: „Überwachen und Strafen“)

  • Selbstüberwachung │ Selbstdisziplinierung

  • Verleugnungsstrategien

  • Missachtung von qualifizierten Voraussagen

  • Lobbyisten- und Klientelpolitik

  • Wirkung des Dämons der Privatisierung

  • totale soziale Überreizung

  • ...

 

Zeitenwende: Beginn einer neuen linearen Zeitrechnung?

  • B.C.: Before Coronavirus
  • A.C.: After Coronavirus

 

Juni 2021

Der Leiter des Frankfurter Gesundheitsamts, René Gottschalk, geht in den Ruhestand - "Der Pandemieexperte, der nicht gehört wurde." [8]

 

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[1] KIPPING 2020.

[2] DÖRRHÖFER 2020a.

[3] FRANKFURTER RUNDSCHAU 2020b.

[4] STERNBURG 2020b.

[5] RIPPEGATHER/LEPPERT 2020.

[6] MIKA 2020.

[7] KURIANOWICZ 2020.

[8] RIPPEGATHER 2021.