Soziale Folgen der Industriegesellschaft

Klaus A.E. Weber

 

Übergang zur Industriegesellschaft

1870-1914 │ Zeit des Umbruchs

Nach HÄNDELER kennzeichnen Strukturzyklen mit langen Wellen („Kondratieffwellen“) seit etwa 250 Jahren die volkswirtschaftliche Entwicklung und mit ihr verbunden alle Lebensbereiche des Menschen.[1]

Nach der frühen Neuzeit mit ihrer statischen Technologie erfolgte in Deutschland etwa im Zeitraum von 1870-1914 der Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft.

In Nordwestdeutschland setzte die Industrialisierung erst etwa ab 1840 ein.

Neue Gewerbe entstanden und die Verkehrsverhältnisse für Güter und Personen verbesserten sich durch den Bau von Eisenbahnen und Schienenwegen.

Durch die Industrialisierung bildeten sich regionale und städtische Zentren heraus, die einerseits Arbeitsplätze für Dorfbewohner schufen, andererseits zugleich auch Abnehmer für agrarische Produkte wurden.

Arbeiteten noch zu Beginn der „industirellen Revolution“ über 4/5 unserer Vorfahren in der Landwirtschaft, so ist hierbei seit etwa 1800 ein stetiger Rückgang zu verzeichnen.[1]

Die Epoche des Übergangs von der Agrar- zur Industriegesellschaft wird nach HENNING [9] sozialwissenschaftlich untergliedert in die Phase

  • des Aufbruchs zur Industrialisierung - 1735-1835
  • der ersten Industrialisierung - 1835-1873
  • des Ausbaus der Industrie - 1873-1914

unter Entwicklung frühkapitalistischer, industrieller Produktionsweisen.

Der maßgeblich von England ausgehende technische Fortschritt mit dem Betrieb zahlreicher Manufakturen

führte letztlich auch im technologisch und ökonomisch noch rückständigen Deutschland zu einschneidenden, epochalen Veränderungen im wirtschaftlichem und in der Folge auch im sozialen wie kulturellen Sektor.

Nach einer unscharfen These von SCHULTZ war dabei „die Ausweitung der gewerblichen einfachen Warenproduktion auf dem platten Lande während der Übergangsepoche zum Kapitalismus … eine Voraussetzung und Begleiterscheinung der ursprünglichen Akkumulation des Kapitals.“[2]

Nach der 1867 von MARX in seinem Ersten Band von „Das Kapital – Kritik der politischen Oekonomie“ gefertigten ökonomischen Analyse hob „die Maschine die auf dem Handwerk beruhende Kooperation und die auf Teilung der handwerksmäßigen Arbeit beruhende Manufaktur“ auf.[10]

Das Manufakturwesen, das Handwerk wie auch die Hausarbeit wurden durch die „große Industrie“ revolutioniert.

Dabei zeichnete sich bereits zuvor um 1848 erkennbar ab:

  • "Die Arbeit der Proletarier hat durch die Ausdehnung der Maschinerie und die Theilung der Arbeit allen selbständigen Charakter und damit allen Reiz für den Arbeiter verloren. Er wird ein bloßes Zubehör der Maschine, von dem nur der einfachste, eintönigste, am leichtesten erlernbare Handgriff verlangt wird."[3]

Durch die Mechanisierung mit Einsatz von Maschinen wurde die Massenproduktion mit veränderten Produktionsprozessen möglich.

Die spätere konsequente Nutzung der Elektrizität tat ein Übriges.

So wurde in England auf großen mechanischen Webstühlen Baumwollgewebe effektiver und kostengünstiger hergestellt, mit der unweigerlichen Folge der Marktverdrängung der binneneuropäischen Leinenproduktion.

Auch in der Sollingregion verschärfte sich letztlich die Armutssituation vieler Familien, insbesondere noch dadurch, dass während der Phase der Hauptindustrialisierung ab der Mitte des 19. Jahrhunderts die Länder des niedersächsischen Raumes und damit auch das Herzogtum Braunschweig hinter den ökonomisch dominierenden Gebieten des Deutschen Reiches zurückgeblieben waren.

Die zunehmende Errichtung von Fabriken führte schließlich zu einer massenhaften Binnenwanderung vom Land in die städtischen Ballungszentren.

Bei gleichzeitigem Bevölkerungswachstum entwickelte sich eine enorme Raumnot mit schlechten Wohnverhältnissen.

Es entstand die Arbeiterklasse.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hielten Dreck, Trostlosigkeit, Elend und Krankheiten mit Seuchen in den proletarischen Haushalten Einzug.

Weitere gravierende Veränderungen kamen hinzu, wie

  • Wohnungsnot

  • Kinder- und Frauenarbeit

  • niedriges Reallohnniveau │ „Hungerlöhne”

  • hohe Wochenarbeitszeit

  • hohe Arbeitslosigkeit

  • sozialer Abstieg

  • Alkoholismus │ „Trunksucht”

  • Wandel tradierter Lebensgewohnheiten │ Bedürfnislosigkeit der Arbeiter*innen

  • Nahrungsmittelmangel

  • Ernährungsdefizite

  • unzureichende Kleidung

  • Infektions- und Mangelkrankheiten, insbesondere bei Müttern und Kindern.

Der durchgreifende wirtschaftliche Wandel ging in Deutschland also mit zunehmenden sozialen Problemverdichtungen sowie individueller sozialer Not, Armut und gesundheitlicher Risiken einher.

Die epochalen wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen, die ökonomischen Krisenzeiten und die daraus folgende schwere individuelle Not prägte auch die Sollingdörfer.

Die soziale Lage der meisten Dorfbewohner*innen verschlechterte sich erheblich.

Wie noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts berichtet wird, herrschte im abgelegenen Arbeiterdorf Hellental eine besonders große Verarmung und Verelendung vor.

 

"Manifest der Kommunistischen Partei"

London: Februar 1848

Faksimile

Titelblatt

Londoner Erstausgabe

© [hmh, Fotos: Klaus A.E. Weber

 

Verarmung und Verelendung │ „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!”

Karl Marx [15][19]

"Er hat die Geburtswehen des Kapitalismus erlebt und für Todesschreie gehalten".[17]

Es war die brisante Zeit, in der im Europa auch „das Gespenst des Kommunismus” umherging.

In London war im Februar 1848 das sich epochal auswirkende, revolutionär-ideologische „Manifest der Kommunistischen Partei” von Karl Marx (1818-1883) und Friedrich Engels (1820-1895) mit der kommunistischen Leitidee des Klassenkampfes der Arbeiterschaft veröffentlicht worden:

  • "Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen … Die Bougeoisie hebt mehr und mehr die Zersplitterung der Produktionsmittel, des Besitzes und der Bevölkerung auf. Sie hat die Bevölkerung agglomerirt, die Produktionsmittel centralisirt und das Eigenthum in wenigen Händen koncentrirt."[4]

Die in der vorherrschenden kapitalistischen Gesellschaftsordnung bestehenden Gegensätze würden, so die beiden Revolutionstheoretiker, zwangsläufig zur sozialen Revolution und zum Aufbau einer neuen, klassenlosen Gesellschaft führen.

Im Juli 1867 folgte der Erste Band der drei Bände von Karl Marx über „Das Kapital – Kritik der politischen Oekonomie”.[14][17][18]

Im Vorwort zur ersten Auflage vermerkte "der nette Herr Marx" [16]:

"Im Vergleich zur englischen ist die soziale Statistik Deutschlands elend." [5]

 

1863 - Die erste sozialistische Partei entsteht im deutschen Kaiserreich

 

Ferdinand Lassalle

Lithografie 1908

Stadtmuseum Düsseldorf

© [hmh, Foto: Klaus A.E. Weber

 

In Leipzig entstand 1863 die erste sozialistische Partei, der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein (ADAV) unter dem Radikaldemokraten Ferdinand Lassalle (1825-1864) zur Sammlung der wachsenden deutschen Arbeiterbewegung.

Es war zugleich deren erste politische Vertretung.

Ferdinand Lassalle, der zeitweise mit Karl Marx und Friedrich Engels zusammenarbeitete, gilt als einer der Gründungsväter der deutschen Sozialdemokratie.

Der Allgemeine Arbeiterverein zählt zu den Vorläufern der sozialdemokratischen Bewegung wurde.

Denn wenige Jahre später, 1869, wurde in Eisenach durch Wilhelm Liebknecht (1826–1900) und den Drechslermeister August Bebel (1840–1913) die Sozialdemokratische Arbeiterpartei gegründet, die sich 1875 mit dem ADAV zur Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschland (SAPD) vereinigte.

 

© Historisches Museum Hellental

 

Im Jahr 1876 wurde die Parteizeitung Vorwärts als „Central-Organ der Sozialdemokratie Deutschlands“ gegründet – mit einer Erstausgabe am 01. Oktober.

Bereits zwei ahre später, 1878, wurde vom Reichskanzler Otto von Bismarck (1815-1898) das „Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“, das so genannte Sozialistengesetz, erlassen, verbunden mit einem Katalog repressiver Verfolgungsmaßnahmen gegenüber dem sozialen Aufbegehren der Arbeiterschaft und der sozialistischen Arbeiterbewegung - u.a.

  • Aufhebung der Gewerkschaftsvereine

  • Verbot der Parteipresse und –organisation

  • Erlaubnis zur Ausweisung von SPD-Anhängern.

Der im Volksmund vielfach als „Eiserner Kanzler“ verehrte Reichskanzler war dabei der festen Überzeugung, dass man Genossen nicht „totreformieren“ könne, sondern nur „totschießen“.[6]

Otto von Bismarck widerstrebten dabei auch die anfänglichen kaiserlichen Arbeiterschutzprojekte, wie Sonntagsruhe, Verbot der Kinderarbeit.

 

Fürst Otto von Bismarck

(1815-1898)

William Voss │ 1896

Ostpreußisches Landesmuseum

Lüneburg

© [hmh, Foto: Klaus A.E. Weber

 

Infolge des „Sozialistengesetzes“ wurden im Herzogtum Braunschweig die politischen und gewerkschaftlichen Organisationen der Arbeiterschaft weitgehend verboten.

Der „Braunschweiger Volksfreund“, die verbotene sozialdemokratische Parteizeitung, die vermutlich auch Arbeiter in Hellental gelesen haben, wurde unter der Tarnbezeichnung „Braunschweigisches Unterhaltungsblatt“ fortgeführt.[7]

Auf wachsenden politischen Druck hin, zur materiellen Befriedigung und politischen Versöhnung mit der Staats- und Gesellschaftsordnung des 1871 proklamierten Deutschen Reiches unter Kaiser Wilhelm I. wurde in den 1880er Jahren die erste Sozialgesetzgebung von v. Bismarck erlassen

  • Sozialgesetze zur Krankenversicherung 1883

  • Unfallversicherung 1884

  • Alters- und Invalidenversicherung 1889.

Es waren diese entscheidenden Weichenstellungen der staatlichen Sozialversicherung im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, die das System der Sozialen Sicherung (als Solidargemeinschaft) in Deutschland in seiner bisherigen Ausgestaltung etablierten.

Andere Bereiche der Sozialen Sicherung, wie beispielsweise die Armenfürsorge, haben dem hingegen eine weitaus längere Entwicklungslinie.

Eine einführende Darstellung von Vorformen der Sozialversicherung in Stadt und Landkreis Holzminden im 18./19. Jahrhundert ist einem Aufsatz von JAHNS [11] zu entnehmen.

Die sich 1890, nach Aufhebung des „Sozialistengesetzes“, aus der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands entwickelnde, von Wahl zu Wahl wachsende Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) erlangte einst auch im Arbeiter- und Handwerkerdorf Hellental eine richtungsweisende politische Bedeutung.

Die Waldarbeiter orientierten sich über Jahrzehnte hinweg sozialdemokratisch.

Orientierende Hinweise zu Wahlergebnissen im Kreis Holzminden und insbesondere in den Gemeinden Hellental und Merxhausen finden sich bei BÖKE [12].

Bei der Wahl im Deutschen Kaiserreich von 1893 erhielten die Sozialdemokraten 23,3 % der abgegebenen Stimmen, ein deutlicher Zuwachs gegenüber 19,7 % bei der vorangegangenen Wahl.

In der Folge will nunmehr auch Kaiser Wilhelm II. die Sozialisten, die von ihm fortan als „vaterlandslose Gesellen“ bezeichnet wurden, „abschießen, köpfen und unschädlich machen“.[8]

Im Jahr 1890 wurde im Herzogtum Braunschweig die „Invaliditäts- und Altersversicherungsanstalt Braunschweig“ gegründet, die 1899 in Landesversicherungsanstalt umbenannt wurde.

Als Beitrag zur bürgerlichen Förderung der Volkswohlfahrt wurde 1894 ein „Gesundheitsbüchlein“ zur „gemeinfasslichen Anleitung zur Gesundheitspflege“ in Berlin veröffentlicht, das 1908 bereits in 13. Auflage, im damaligen Kaiserlichen Gesundheitsamt bearbeitet worden war.

Von PAULITKY [13] war Jahrzehnte zuvor eine „Anleitung für Landleute zu einer vernünftigen Gesundheitspflege“ herausgegeben worden, ein „Ein Hausbuch für Landgeistliche, Wundärzte und verständige Hauswirthe“.

 

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[1] HÄNDELER 2005, S. 23 ff.

[2] zit. in REININGHAUS 1990, S. 66.

[3] MARX/ENGELS 1848, S. 7.

[4] MARX/ENGELS 1848, S. 3 ff.

[5] MARX 1987 (1867), S. 15.

[6] ALBIG 2004, S. 57.

[7] JARCK/SCHILDT 2000.

[8] ALBIG 2004, S. 57.

[9] HENNING 1989.

[10] MARX 1987 (1867), S. 483.

[11] JAHNS 2005, S. 85 ff.

[12] BÖKE 2005, S. 45 ff.

[13] PAULITKY 1836.

[14] KAUFMANN (Interview): "Ich stehe quasi auf Marx' Schultern". Der Wirtschaftshistoriker Thomas Kuczynski über 150 Jahre "Das Kapital" und die Aussagekraft sozialistischer Wirtschaftstheorien gestern, heute und morgen. In: Frankfurter Rundschau. Nr. 18, 21./22.01.2017, S. 14-15.

[15] Große Landesausstellung in Trier: KARL MARX 1818–1883. LEBEN. WERK. ZEIT. vom 05. Mai bis 21. Oktober 2018 - Rheinisches Landesmuseum Trier und Stadtmuseum Simeonstift Trier..

[16] SCHWERING 2018.

[17] HESSE 2017.

[18] SIEVERS 2017.

[19] MAYER-KUCKUK 2018.