Gläserne Kriegsspur │ 1915/1933
Klaus A.E. Weber
Schwerer, geschweifter Humpen - mit Widmung
Eine lokale, individuelle „gläserne Spur" des Ersten Weltkriegs (1914-1918) stellt der in der Glasfabrik Georgshütte (1872-1989) am westlichen Sollingrand in Boffzen mundgeblasen hergestellte, wuchtig anmutende glatte Bierhumpen aus farblosem Glas dar - mit den Markierungen "1 1/4 L" und "2 L" sowie mit der später durch Gravur hinzugefügten Widmung
„Karl Sievers zum Geburtstag 1933“
Glas, farblos │ Vol.: 2,3 l │ Gew.: 1.290 g │ Markierung: 1 ¼ L – 2 L
Glasfabrik Georgshütte Boffzen (1872-1989)
Bierhumpen (Seidel) mit der Produktionsnummer 266
Humpen – geschweift, schwer, aufgetrieben, gestreift und glatt │ 0,5 – 5 Liter
[hmh Inv.-Nr. 4132
Geburtstags-Bierhumpen [1]
»Karl Sievers zum Geburtstage 1933«
© [hmh, Foto: Klaus A.E. Weber
Von dem verwandten Glasbläser August Hansmann in der ehemaligen industriellen Hohl- und Pressglasfabrik mit Dampfschleiferei (1872-1989) in Boffzen optisch geblasen hergestellt, wurde der imposante, 1,3 kg schwere 2-Liter-Bierhumpen im Jahr 1933 – dem Jahr der nationalsozialistischen Machtübernahme – dem kriegsblinden, 39jährigen „Karl Sievers zum Geburtstag“ in Hellental im Solling geschenkt.[1]
Nach mündlicher Überlieferung sei der große Bierhumpen bereits vor 1933, wahrscheinlich um 1930, während der Weimarer Republik in der Georgshütte hergestellt worden.
Hierzu ist anzumerken, dass nach seiner Machtübernahme 1933 das nationalsozialistische Regime das Boffzener Glasunternehmen aufgefordert hatte, das Mundblasverfahren einzustellen und Glas nur noch maschinell zu produzieren.
Karl Siebers – Zwar überlebt, aber schweres Schicksal als „Kriegsblinder“
Der Sohn des Hellentaler Waldarbeiters Heinrich Siebers (Ass.-№ 49), Karl August Julius Siebers (1894-1961), „Jahresklasse 1914“, war gelernter Schlachter und gerade erst 20 Jahre alt, als er am 03. Dezember 1914 als Ersatzrekrut zum Militärdienst - Truppenteil: Ersatzbataillon Abt. 2 des Infantrieregimentes 77 Celle - einberufen wurde.
Bereits sieben Monate später erlitt der junge, eher kleinwüchsige Rekrut am 13. Juni 1915 an der Ostfront (Russland) eine schwere Handgranatenverletzung an beiden Augen und an der rechten Hand.
Dabei fehlten durch die Zerstörung des Glaskörpers im Augeninneren das linke Auge und das rechte Auge war völlig erblindet.
Wie hierzu erzählt wurde, sei eine russische Handgranate bei ihrem Aufschlag auf dem angelegten Gewehrkolben des Rekruten explodiert, habe seine rechte Hand zerfetzt und zu den zuvor genannten schweren Augenverletzungen geführt.
Seine beiden benachbarten Kriegskameraden seien ebenfalls schwerstverletzt worden, u. a. auch mit erheblichen Gesichtsverletzungen.
Über ein Jahr, vom 21. Juni 1915 – 15. September 1916, wurde daraufhin Karl Siebers in der Augenklinik von Halle/Saale stationär behandelt.
Wenige Tage danach, am 20. September, wurde er 22-jährig als „kriegsuntaugbar mit Versorgung“ aus dem kaiserlichen Kriegsdienst nach Hellental entlassen.
Wegen erlittener „Kriegs-Dienstbeschädigung“ wurde der ehemalige Ersatzrekrut Siebers als 100 % erwerbsunfähig und „dreifach verstümmelt“ eingestuft, woraufhin er ab dem 01. Januar 1916 eine monatliche Rente in Höhe von 141,- Mark als Schwerkriegsbeschädigter erhielt.
In der Folgezeit war Karl Siebers gemeinsam mit seinem Vater Heinrich in Hellental landwirtschaftlich tätig, soweit es ihm seine verstümmelnde Kriegsverletzung der rechten Hand und die völlige Blindheit zuließen.
Dabei war er einerseits oftmals auf Freunde im Dorf angewiesen, wie beispielsweise auf die mit ihm befreundete Familie Seitz.
Andererseits ging der blinde Karl Siebers, unterstützt von einem Blindenführhund, täglich alleine mit einer Kuh oder manchmal auch mit einem Rind von seinem Wohnhaus (Ass.-№ 49) zur nahe gelegenen Weide und fing des Abends das weitende Tier wieder ein.
Gerne und oft spielte er zuhause oder im Freundeskreis auf seiner Zitter.
Wie erzählt wird, habe Karl Siebers auf Grund seiner Mehrfachbehinderung vergünstigend später als erster im Dorf über einen „Volksempfänger“ (Rundfunkgerät) verfügt.
Erst sehr spät, am 10. Oktober 1933, heiratete der nunmehr 39-jährige Karl Siebers in Altendorf (Holzminden) die gleichaltrige Johanne Tiene aus Altendorf.
Sie soll der offenbar auch vermittelten Hochzeit „aus Mitleid“ eingewilligt haben.
Aus der Ehe ging bald eine Tochter hervor.
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[1] In einer glashistorischen Sonderausstellung zeigte das Museum im Backhaus im Sommer 2014 zum 100. Jahrestag des Beginns des Ersten Weltkriegs in einer inzwischen abgeschlossenen Glasausstellungseinheit „Georgshütte Boffzen - Beckerglas“ einen dort manuell hergestellten, wuchtig anmutenden Geburtstags-Bierhumpen aus farblosem, mundgeblasenem Glas.