Cholera-Erzählung von Pastor Querfurth um 1913

Klaus A.E. Weber

Leitender Medizinaldirektor / Amtsarzt a. D.

 

Mehr als 60 Jahre nach der schweren Choleraepidemie versuchte Pastor Querfurth in einer eindrucksvoll gestalteten Erzählung die lokalen Umstände und Auswirkungen jener Choleratage des Sommers 1850 aus seiner Erinnerung heraus nachzuzeichnen.

Hierin kommen illustrierend u. a. auch interessante klinische wie epidemiologische Beschreibungen zum Tragen.[1]

 

"Es war im Hochsommer des Jahres 1850. Glühend brannte die Sonne von dem bleichfarbenen Himmel hernieder, einen Tag wie den andern, ohne Aufhören, ohne Unterbrechung.

Den glutheißen Tagen folgten dumpfschwüle Nächte, und der Landmann, durch den unruhigen Schlummer nur wenig gestärkt, begab sich mit Seufzen wieder an die Arbeit des neuen Tages.

Eine schwere, drückende Luft lag über den Tälern des Sollings.

Wochenlang war kein Regen gefallen, und die Blätter an den Buchenbäumen, sonst um diese Jahreszeit, besondres in den höher gelegenen Waldungen, noch im frischen Grün prangend, färbten sich gelb, und das welke, abgefallene Laub bedeckte an manchen Stellen bereits den Waldboden wie im Spätherbst.

Wiesen und Weiden verdorrten; das Vieh fand nur kärgliche Nahrung und kehrte des Abends hungrig in die Ställe zurück.

Ja sogar die Quellen versiegten, und in den höher gelegenen Gebirgsdörfern entstand hie und da ein empfindlicher Wassermangel.

Alt und jung sehnte sich nach Regen, nach Abkühlung.

Auch der Wanderer, der an einem dieser Tage die steinige Straße dahinzog, die von Gandersheim nach Holzminden durch den Solling führt, seufzte unter der Last der drückenden Hitze.

Seines Handwerks ein Schuhmacher, hatte er bis vor kurzem in Braunschweig in Arbeit gestanden.

Nun aber hatte er Sehnsucht nach seiner westfälischen Heimat ihn fortgetrieben aus der großen Stadt, und er malte sich schon im Geist seine zukünftige Werkstätte aus in dem trauten Heimatdörflein, wo er nach so langen Lehr- und Wanderjahren als ehrsamer Meister sich niederlassen wollte.

Aber noch ein anderes war es, was ihn veranlasst hatte, plötzlich seine gute und lohnende Arbeit in Braunschweig niederzulegen und sich auf die Heimfahrt zu begeben.

Ein unheimlicher Gast war nämlich in der Stadt eingezogen – die CHOLERA!

Bald in dieser, bald in jener Straße war die tückische Krankheit aufgetreten, hatte bereits unter allen Volksklassen, zumeist allerdings unter der arbeitenden Bevölkerung, ihre Opfer gefordert, und von Tag zu Tag mehrten sich die Todesfälle.

Da verließen viele, die nicht in der Stadt ansässig waren, ihre Stellen, um so schnell als möglich dem Seuchenherd zu entfliehen und sich in Sicherheit zu bringen.

Unser Schustergesell’ war nicht so ängstlicher Natur; als er aber eines Tages das Gespenst sich auf den Schemel ihm gegenüber setzte und ihn mit verzerrten Mienen angrinste, als zwei seiner Nebengesellen und auch der Meister plötzlich erkrankten und in wenigen Stunden eines qualvollen Todes starben, da packte auch ihn das Entsetzen.

Und so war denn in Wirklichkeit die Cholera die Ursache gewesen, daß er so urplötzlich die Stadt verlassen hatte und sich nun auf dem Wege zur Heimat befand.

Auf einem Steinhaufen am Weg ließ sich der Handwerksbursche erschöpft nieder.

Sein Felleisen legte er neben sich, und mit einem rotgeblümten baumwollenen Taschentuche wischte er sich die dicken Schweißperlen von der Stirn.

Seine Zunge klebte ihm am Gaumen vor Durst.

„Wasser, Wasser!“ seufzte er; aber der Bach, der sonst munter plätschernd an der Seite der Straße dahinfloß, war vertrocknet, und die weißen Kiesel, die darin lagen, glichen Totengebeinen.

Sein Kopf schmerzte ihn zum Zerspringen; eine unendliche Mattigkeit, Schwindel und Übelkeit befiel ihn, während er dort auf dem Steinhaufen saß.

Und plötzlich überkam es ihn mit lähmendem Entsetzen.

Sollte er, vor der Seuche fliehend, dennoch den Todeskeim mit sich fortgetragen haben, so daß er hier an der Straße, fern von jeder menschlichen Hilfe, elend umkommen musste?

Das Haar sträubte sich ihm vor Schrecken, eine unsägliche Angst kam über ihn und legte sich wie ein Alp auf seine keuchende Brust.

Mit einem dumpfen Wehelaut sank sein Haupt auf das Felleisen und eine tiefe Ohnmacht umfing ihn.

Etwa eine Stunde später kam ein Bauer aus dem Dorfe Heinade mit seinem Fuhrwerk an der Stelle vorbei, wo der der wandernde Schuhmachergesell ohnmächtig auf dem Steinhaufen lag.

Der Bauer hielt den Wagen an und trat zu dem Armen, dessen Züge von den heftigen Schmerzen verzerrt waren.

„Hierher, Jan“ sagte er zu seinem Knechte, der bei den Pferden zurückgeblieben war, „faß an, der Mann ist krank.

Wir wollen ihn auf den Wagen laden und mitnehmen.“

„O Herr,“ erwiderte der Knecht, „Tut es nicht; wer weiß, ob der kranke nicht die „Böse Krankheit“ hat, und wie leicht könnte es sein, daß er die Seuche auch in unser Dorf brächte!“

Aber der Bauer antwortete:

„Schäme dich, Jan.

Was würdest du sagen, wenn du hier krank auf dem Steinhaufen lägest und niemand dir helfen wollte?

Kennst du nicht mehr die Geschichte vom barmherzigen Samariter?

Wir dürfen den Mann nicht hier liegen lassen – und was Gott über uns beschlossen hat, das kommt doch!“

Der Knecht machte keine weiteren Einwendungen; sie luden den kranken Handwerksburschen auf den Wagen, legten ihn behutsam auf eine Strohschütte und fuhren mit ihm langsam dem Dorfe zu.

Auf dem Hofe angekommen, wollten sie ihn ins Haus tragen; da aber fanden sie, daß er bereits gestorben war.

Noch an demselben Abend kam der Gerichtsarzt aus Stadtoldendorf, und die Untersuchung ergab, daß der Handwerksbursche tatsächlich an der Cholera gestorben war.

Das war der erste Cholerafall im Solling im Jahre 1850!

Leider blieb es nicht der einzige.

Schon nach wenigen Tagen hörte man bald hier, bald dort von Erkrankungen, von denen nur zu viele mit dem Tode endigten.

In der ganzen Gegend forderte die Cholera ihre Opfer; sie verschonte kein Alter, kein Geschlecht.

Es war schwer zu sagen, ob die Seuche wirklich durch den wandernden Handwerksburschen eingeschleppt worden war; das sprunghafte Auftreten der Krankheit bald in diesem, bald in jenem Orte schien diese Annahme zu widerlegen.

Aber grauenhaft war die Ernte, die der Tod damals in den Sollingdörfern hielt.

In Heinade, einem Dorfe von damals kaum 400 Einwohnern, starben in der schlimmsten Zeit täglich etwa 5 Personen; in Wangelnstedt erwies sich der Friedhof als zu klein, um die vielen Leichen aufzunehmen, und es mußte eingerichtet werden, der heute noch im Volksmunde den Namen ”Cholerakirchhof” führt.

Nicht besser war es in Merxhausen, in Mackensen, in Sievershausen und den anderen in dieser Gegend liegenden Dörfern.

Jeden Tag tönten die Totenglocken über die Höhen des Gebirges - ein eindringliches memento mori den Überlebenden.

Oft genug geschah es, daß derjenige, der soeben einem Freunde, Verwandten oder Nachbarn das letzte Geleit gegeben hatte, noch an demselben Tage sich niederlegte, um nicht wieder aufzustehen.

Ärzte, Schreiner und Totengräber hatten eilige Zeit.

Damals zeigte es sich auch, dass Not beten lehrt.

Wohl sind die Sollingbewohner von jeher gut kirchlich gewesen; aber so besucht wie in dieser bösen Zeit waren die Gotteshäuser doch nur selten.

Wusste doch niemand, ob es nicht der letzte Gottesdienst war, den er mit der Gemeinde feiern konnte!

Nur ein einziges Dorf blieb von der Seuche verschont, obgleich im meilenweiten Umkreise der Tod überall überreiche Ernte hielt; das war das kleine Hellental.

Wie eine Fügung Gottes war es anzusehen, dass auch kein einziger Bewohner dieses Dorfes an der Cholera erkrankte.

Es erfüllte sich, wie es im Psalmwort heißt:

”Ob Tausend fallen zu deiner Seite und Zehntausend zu deiner Rechten, so soll es doch dich nicht treffen.”

Und als nun endlich der Würgeengel ermüdete, als mit dem Eintritt der kühleren Jahreszeit die Seuche allmählich nachließ und endlich ganz aufhörte, da konnten die Einwohner von Hellental rühmen und preisen:

”Der Herr hat Großes an uns getan, des sind wir fröhlich!”

Und dankbaren Herzens beschlossen sie, für ewige Zeiten jährlich einen Tag Gott zu geloben, um ihm zu danken für diese Errettung aus der großen Gefahr und Not.

Und so wurde denn der  e r s t e  M i t t w o c h  i m  S e p t e m b e r  für alle Zeiten dazu bestimmt, für Hellental ein Buß-, Bet- und Gedächtnistag zu sein, um noch bei den späten Nachkommen die Erinnerung an die Cholerazeit des Jahres 1850 wach zu erhalten.

Einstimmig wurde solches von der Gemeindevertretung gelobt, und die kirchliche Oberbehörde in Wolfenbüttel gab gern und freudig dazu ihre Zustimmung.

Im Jahre 1851 wurde dieser „Choleratag“, wie er von der Zeit an genannt wurde, zum ersten Male gefeiert.

Als die Glocken zum Gotteshause riefen, füllte sich dieses bald bis auf den letzten Platz; aber ebenso viele Menschen, wie drinnen waren, standen noch vor den Türen.

Um aber alle, die gekommen waren, an dem Gottesdienst teilnehmen zu lassen, begab sich die ganze Gemeinde auf den Kirchhof, und hier unter Gottes freiem Himmel, angesichts der bewaldeten Bergkuppen, wurde nun von dem damaligen Pastor Brauns aus Deensen die Predigt gehalten, an die sich, ebenfalls unter freiem Himmel an einem schnell aufgebauten Altar die Feier des heiligen Abendmahls anschloß.

Es war eine ergreifende Feier, dergleichen in der ganzen Umgegend niemals gesehen worden war, und noch heute [Anm.: um 1913] reden die ältesten Leute aus Hellental, die damals an ihr teilgenommen haben, von dem gewaltigen Eindruck, den dieser eigenartige Gottesdienst auf sie machte.

So ist es in Hellental geblieben bis auf den heutigen Tag [Anm.: 1913]; noch alljährlich am ersten Mittwoch im September wird dort der Choleratag gefeiert.

Der Fremde, der durch den Solling wandert, ist erstaunt, wenn er unversehens ins Dorf kommt und ihm mitten in der Woche an einem Werktage sonntäglich gekleidete Leute begegnen und die Glocken des Kirchleins zur Andacht rufen.

„Wir feiern heute unseren Choleratag“, wird ihm dann wohl auf seine Frage erwidert; und erkundigt er sich weiter, so wird man ihm die Geschichte des Tages erzählen.

Zu bedauern ist, daß sich weder im Pfarrarchiv in Heinade, wo der zuständige Pfarrer von Hellental wohnt, noch in den Akten des Ortsvorstehers, noch sonst irgendwo eine Aufzeichnung über die Entstehung des Choleratages findet; das hindert aber nicht, daß er im Dorfe für den höchsten Festtag des Jahres gehalten wird.

Noch heute ist es Sitte, daß an  d e m  Tag eine große Abendmahlsfeier stattfindet, und wir wollen hoffen, daß dieser schöne Brauch sich auch in Zukunft erhalten möge, und daß die Feier dieses Tages auch noch den Nachkommen ein Beweis sein möge für den frommen Sinn der Vorfahren.

 

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[1] WEBER 2005; S. 378 ff.; QUERFURTH 1913,