Tuberkulose
Klaus A.E. Weber
Leitender Medizinaldirektor / Amtsarzt a. D.
„Die vermeidbare Epidemie“ [10]
Jährlich sterben ungefähr 1,6 Millionen Menschen an Tuberkulose, mehr als 10 Millionen sind von der Infektionskrankheit betroffen (WHO), obwohl es seit Jahrzehnten effektive Medikamente gibt.
Dabei ist der Kampf gegen die lebensbedrohliche Tuberkulose "eine Frage von Geld und Willen".[10]
© [hmh, Foto: Mechthild Ziemer
Tuberkulose (Tb, Tbc)
Pulmonale Tuberkulose │ Extrapulmonale Tuberkulose
tuberculum: kleines Geschwulst
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Die Schwindsucht
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Morbus Koch
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Die Motten
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Die weiße Seuche
- „re-emerging-disease“
Erreger: Mycobakterium tuberculosis
Die aeroben gram-positiven Stäbchen-Bakterium verändern sich 10 – 50 Mal schneller als die Lepra-Erreger.
Inkubationszeit: Wochen
Übertragung: Einatmen infektiöser Tröpfchen (Aerosole)
Die Geburt der Venus │ ca. 1485/1486 │ Sandro Botticelli
Le Galerie Degli Uffizi Firenze
© [hmh, Foto: Klaus A.E. Weber
Tuberkulose in der Renaissance
Die schöne junge Florentinerin Simonetta Cattaneo Vespucci (1453-1476), Vorbild für das frührenaissancezeitliche großformatige Gemälde "La nascita di Venere / Die Geburt der Venus" des Malers Sandro Botticelli (1445-1510), soll im Alter von 23 Jahren in Florenz an Lungentuberkulose gestorben sein.
„Romantisches Leiden“ im 18./19. Jahrhundert │ „Proletarierkrankheit“ des 19./20. Jahrhunderts
Bei der Tuberkulose handelt es sich um eine chronisch verlaufende Infektionskrankheit, die alle Organe und Systeme des Menschen befallen kann.
Sie wird durch einen spezifischen bakteriellen Erregerkomplex verursacht, der vornehmlich durch das Einatmen infektiöser Tröpfchen (Aerosole) oder Staubpartikel übertragen wird.
In dem hier betrachteten Zeitraum konnte zudem auch durch die orale Aufnahme von tuberkulös infizierter Milch oder von tuberkulös infiziertem Rindfleisch eine Erregerübertragung erfolgen.
Die Tuberkulose ist ein typisches Beispiel für die Sozialbedingtheit epidemischer Infektionskrankheiten: „Signalkrankheit deutscher Geschichte“, die im 19./20. Jahrhundert als die „Krankheit der Proletarier“ imponierte (heute: jährlich 1,5 – 2 Millionen Tuberkulose-Todesfälle │ in den letzten zwei Jahrhunderten: hochgerechnet etwa 1 Milliarde Tuberkulose-Todesfälle).
Das bis in die altägyptische Geschichte hineinreiche Krankheitsbild wurde ehemals mit recht unterschiedlichen Sammelbegriffen belegt, wie beispielsweise
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„Auszehrung”
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„Phthisis pulmonalis“
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„Schwindsucht”
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„Die Motten“
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„Weiße Pest“
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"Weißer Tod"
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„Volksseuche“
die im historischen Rückblick nicht völlig exakt unter dem erst um 1834 eingeführten Fachterminus „Tuberkulose“ subsumiert werden können.
Die Ausbreitung der (Lungen-)Tuberkulose wurde und wird noch heute allgemein durch
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Armut
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schlechte, unhygienische Lebensbedingungen
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Migration
- medizinische Unterversorgung
wesentlich begünstigt, also durch jene sozialen Faktoren, die auch in Heinade, Hellental und Merxhausen zumindest zeitweise vorgeherrscht haben.
Daher war im 18. und 19. Jahrhundert insbesondere die „Lungenschwindsucht“ – die Tuberkulose der Atmungsorgane – im Solling eine der häufigsten Infektionskrankheiten des einfachen dörflichen Lebens jener Zeit.
Hinzu trat hier der schwerwiegende Mangel an ortsnaher ärztlicher Grundversorgung.
Es kann aus medizinhistorischen und infektionsepidemiologischen Gründen davon ausgegangen werden, dass im 18./19. Jahrhundert die Tuberkulose, insbesondere aber die aerogen übertragbare Lungentuberkulose („Lungenschwindsucht“), auch unter den „kleinen Landleuten“ der hier betrachteten DorfRegion weit und anhaltend verbreitet war.
Wie auch die hier vorgestellten genealogischen Daten dokumentieren, zählte die „Schwindsucht“ zu den häufigsten und bedeutendsten Infektionskrankheiten des einfachen dörflichen Lebens jener Zeit.
Viele Dorfbewohner*innen der DorfRegion erkrankten und verstarben an der damals nicht effektiv behandelbaren Lungentuberkulose.
Bedeutend hierbei war als landwirtschaftliche Infektionsquelle die Rindertuberkulose, die bei der Stallhaltung, also bei engem Tierkontakt, auftreten kann, und bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts eine sehr häufige Infektionskrankheit war.
Da hier für den Menschen eine ernsthafte Infektionsbedrohung bestand, war infektionspräventiv das Ziel, Milch aus tuberkulosefreien Beständen zu erhalten.
Dabei bestand u.a. die Möglichkeit, ein Schild „Tuberkulosefreier Rinderbestand” außen am Stall anzubringen.
Kennzeichnung eines tuberkulosefreien Rinderbestandes
Hessen │ um 1950 [6]
© Historisches Museum Hellental
"Vergessen, aber nicht vorbei" [9]
Die Lungentuberkulose war ein mit vielen Ängsten besetztes Massenphänomen („Volksseuche“, „weiße Pest“) des 19./20. Jahrhunderts.
So starben während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Deutschen Reich jährlich etwa 100.000–120.000 Menschen an der „Schwindsucht“.[1]
Im Jahr 1876 starben von 10.000 Lebenden 32 an der Tuberkulose.
Verlauf der Tuberkulose-Sterbefälle pro 100.000 Einwohner*innen
1876-1940 [4]
© Historisches Museum Hellental
Der in Clausthal im nahen Oberharz geborene Bakteriologen Robert Koch (1843-1910) [7] konnte am 24. März 1882 einer Sitzung der Berliner Physiologischen Gesellschaft seine Entdeckung des Tuberkuloseerregers bekannt geben:
Dies geschah in einer Zeit, in der die politische und administrative Aufmerksamkeit gegenüber der sich weiter ausbreitenden Lungentuberkulose und ihrer Verhütung und Bekämpfung angewachsen war.
Das Sanatorium Höhenklinik mit ihrer Liegehalle Schatzalp in Davos diente Thomas Mann (1875–1955) als Vorbild für seinen ab 1920 entstandenen Roman «Der Zauberberg».
„Tuberkulose zersetzte die Nieren und vereiterte das Herz“
Der Dichter Friedrich Schiller (1759-1805) bedurfte in seinen 16 letzten Lebensjahren der regelmäßigen ärztlichen Behandlung.
Er war an einer Lungen- und Nierentuberkulose erkrankt, an der er am 9. Mai 1805 verstarb.
Nach HOFMANN [2] führte die Tuberkulose bei Schiller zu derart tief greifenden Krankheitserscheinungen, dass der sezierende Pathologe eine völlig vereiterte Lunge fand, an der Stelle des Herzens einen „kleinen, schlaffen Beutel“, eine in Auflösung begriffene Gallenblase sowie „fast völlig zersetzte" Nieren.
"Unentbehrliche Schutzgeräte für Tuberkulöse"
erste Hälfte 20. Jahrhundert [5]
© Historisches Museum Hellental
⊚ Zum Anklicken [3]
Der "Blaue Heinrich"
Taschenflasche für Tuberkulöse │ um 1940
© Historisches Museum Hellental, Foto: Mechthild Ziemer
„Nicht auf den Boden spucken!“
Im Rahmen der staatlichen Tuberkuloseaufklärung und –bekämpfung um die Wende zum 20. Jahrhundert dürfte durch "Spuckverbotstafeln" auch in den zahlreichen Dorfkrügen des Sollings darauf hingewiesen worden sein, nicht auf den Boden zu spucken.
Volkstümliche Aufklärungsschrift zur "schlimmsten Volksseuche"
1949 [3]
© Historisches Museum Hellental
"Die weiße Pest" [8]
Das Corona-Virus verbreitete Angst, Schrecken und Unsicherheit – vor 100 Jahren wurde die Schweiz mit tödlicher Wucht von der Tuberkulose und der Spanische Grippe heimgesucht.
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[1] WILDEROTTER 1995, S. 278 ff.
[2] HOFMANN 2005.
[3] KRAUSS 1949.
[4] KRAUSS 1949, S. 19 Abb. 19.
[5] KRAUSS 1949, S. 79 Abb. 48/50.
[6] Amtliches Blechschild des Hessischen Innenministeriums im Rahmen der Bekämpfung und Ausrottung der Rindertuberkulose, als Kennzeichnung auf einer Stalltür des landwirtschaftlichen Nebenerwerbsbetriebes der Familie Weber in Kirch-Brombach im Odenwald in den 1950er Jahre angebracht; jetzt Exponat im HISTORISCHEN MUSEUM HELLENTAL.
[7] Als Kolonialmediziner diente Robert Koch auch dem Erhalt der kolonialen Wirtschaft.
[8] Blog-Artikel des Schweizer Nationalmuseums vom 24. Juli 2020 von Michael van Orsouw, promovierter Historiker, Bühnenpoet und Schriftsteller.
[9] LESZYZYNSKI 2017.
[10] ROSSBACH 2023.