Pflegen und Heilen - meist Frauensache
Klaus A.E. Weber
Leitender Medizinaldirektor / Amtsarzt a. D.
Weise Frau, Hausärztin, Visionärin, schauriges Weib oder böse Hexe?
"Die Geschichte der weiblichen Heilkunst verlief alles andere als geradlinig ... Ihre Akzeptanz hing eng mit dem jeweils herrschenden Frauenbild zusammen."[1]
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Die Kräuterfrau Jule Johler (1822-1910)
Stadtoldendorf
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Die "alte Stinewase" von Hellental (1850-1923)
um 1910
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Die Landärztin Dr. Paula Tobias (1886-1970)
© Historisches Museum Hellental
Klostermedizin | Dorfmedizin | Volksheilkunde
Als typisches historisches Beispiel für die klösterlich geprägte Heilkunst des Mittelalters ist die Benediktinerin und Äbtissin Hildegard von Bingen (1098-1179) mit ihren audio-visionären, mystischen Erfahrungen zu nennen.
Die gelehrte Nonne, Kräuterkundlerin und Kritikerin des Stauferkaisers Friedrich I. Barbarossa (1122-1190), mit dem sie eine Brieffreundschaft unterhilet, gilt als bedeutende Universalgelehrte des Hochmittelalters - und als die erste Vertreterin der deutschen Mystik des Mittelalters.
Nach den Überlieferungen befassten sich ihre Werke mit Religion, Musik, Ethik und Kosmologie.
Auch ist bekannt, dass Hildegard in den 1150er Jahren wohl auch medizinische Abhandlungen zu dem Wesen, den Ursachen, der Behandlung und der Heilung der Krankheiten verfasste.
Allerdings sind - im Gegensatz zu ihren religiösen Schriften - keine Originalhandschriften als zeitnahe Nachweise erhalten geblieben.
Die gern zitierten Texte, die Hildegard als Verfasserin angeben, entstammen dem spätmittelalterlichen Zeitraum des 13. bis 15. Jahrhunderts, in welchem Abschriften, Ergänzungen und Umschreibungen erfolgten.
Erst im Jahr 1970 wird die Bezeichnung „Hildegard-Medizin“ als profitbewusster Marketing-Begriff im deutschen Sprachraum eingeführt, wozu – mittelalterlich orientiert - Pflanzenheilkunde, Ernährungsregeln, Ausleitungsverfahren und Edelsteintherapie gehören.
Nicht selten lebten und agierten Frauen im Mittelalter wie in der beginnenden Neuzeit als Heilerinnen mit außergewöhnlichen Kräften.
Sie verfügten über ganzheitliches volksmedizinisches Wissen ihrer Zeit, wobei sie sich insbesondere mit Kräutern, mit Handauflegen und Besprechen auskannten.
So genannte „weise Frauen“ wurden als Vertreterinnen einer bewegten weiblichen Heilkunst zugleich verehrt, gefürchtet und verfolgt.
Dabei ging es auch um den "Reiz der Macht, den imaginierter Zauber bieten kann".[5]
Letztlich stand insbesondere für Frauen häufig genug die existenzielle Frage im Raum:
Weise Frau, schauriges Weib oder böse Hexe?[5]
Davon wird auch noch bei der Betrachtung des Handauflegens und typischer Besprechungsformeln in den volksmedizinischen Traditionen armer Leute im Solling zu hören sein – und auch davon, dass eben vor allem Frauen volksmedizinisches Wissen auf dem rauen Solling tradierend bewahrten und anwandten, wenn auch nicht ausschließlich.
Erinnern sollte man sich auch an die Sozialreformerin, Statistikerin und "Visionärin der Fürsorge" Florence Nightingale (1820-1910), die im 19. Jahrhundert in London den Grundstein für die moderne Krankenpflege legte und damit die moderne westliche Krankenpflege begründete.[6]
Schulmedizin und Volksmedizin - kulturbedingte Vorstellungen
Es kann aus heutiger historischer Sicht zwischen den Medizinsystemen der gelehrten „Schulmedizin“ einerseits - und der alternativen, einfachen „Volksmedizin“ andererseits unterschieden werden kann.
Wie es die Nutzung der Heilkräuter historisch erkennen lässt, standen sich universitäre „Schulmedizin“ und nicht-akademische Volksmedizin und Naturheilkunde keineswegs fremd gegenüber oder schlossen sich gar gegeneinander aus.
Ihre Erkenntnisse entwickelten sich stetig weiter, gerade auch in wechselseitiger Ergänzung.
Spätestens ab dem 19. Jahrhundert trennten sich dann ihre Wege.
Die Berufskarriere eines frühneuzeitlichen Arztes war einerseits von wissenschaftlicher, andererseits von ärztlicher Tätigkeit gekennzeichnet.
Im frühen 19. Jahrhundert changierten ärztliche Behandlungen zwischen Hilfe, Kontrolle und Forschung.
Prozesse der Professionalisierung, Systematisierung und Verwissenschaftlichung der Heilkunde in der „Schulmedizin“ können medizinhistorisch als ein markantes Unterscheidungskriterium gegenüber der Laienmedizin - hier in Form der Volksmedizin - herangezogen werden.
Besondere Bedeutung kommt dabei der schulmedizinischen Arzneimitteltherapie zu.
Das bekannteste Selbstmedikationsprodukt eines 1826 gegründeten Kölner Pharmaunternehmens – der „Klosterfrau Melissengeist“ -, mag noch heute daran erinnern, dass die soziale Fürsorge und Krankenpflege „armer siechen“ seit dem Frühmittelalter maßgeblich in Klöstern und Hospitälern ausgeübt wurde.
1843 veröffentlichte der Mediziner Georg Friedrich Most (1794-1845) seine „Enzyclopädie der gesamten Volksmedicin - oder Lexikon der vorzüglichsten und wirksamsten Haus- und Volksarzneimittel aller Länder“.
Dieser „nach den besten Quellen und nach dreißigjährigen, im In- und Ausland selbst gemachten zahlreichen Beobachtungen und Erfahrungen aus dem Volksleben“ gesammelten und herausgegebenen Enzyklopädie ist das folgende Zitat entnommen:
"... Alle große, wahrhafte Ärzte und Helfer der leidenden Menschheit, sowohl der Vor- als Jeztzeit, waren und sind davon überzeugt, dass der echte, tüchtige Arzt die Volksmedizin, die Haus- und Volksarzneimittel, nicht verachten, vornehm bespötteln und geringschätzen, sondern kennen lernen, untersuchen und prüfen müsse, ob darin nicht manches Goldkorn vergraben liege, was noch nicht zu seiner Kenntnis gekommen und was dennoch von Wichtigkeit zur Bereicherung seiner Kunst und zur Förderung der medizinischen Wissenschaft sei. ..."
Porträt einer Gottesfürchtigen │ 15. Jahrhundert
Le Galerie Degli Uffizi Firenze
© [hmh, Foto: Klaus A.E. Weber
Buchmedizin │ Mönchsmedizin │ Klostermedizin
Klöster – Kulturelle Träger medizinischen Wissens
Im mittelalterlichen Kloster befassten sich Mönche wie Nonnen im Kontext ihrer christlichen Gartenkultur mit der Pflanzenheilkunde.
Sie verfügten über grundlegende Kenntnisse des Anbaus von Küchenkräutern und zur Heilwirkung von Kräutern, Heil- und Arzneipflanzen – den einzigen wirksamen Medikamenten jener Zeit.
Insbesondere heilkundige Nonnen verbesserten alte Rezepturen und entwickelten neue.
Zudem fertigten sie Abschriften von Kräuterbüchern an, wobei sie sich meistens auf Angaben griechischer und römischer Gelehrter der Pharmazie und Heilkunst stützten.
Um die Wurzeln und das Wesen der volksmedizinischen Traditionen im Solling aufzuspüren und nachzuvollziehen, möchte ich zunächst kurz auf die medizinische Heilkunst des frühen bis späten Mittelalters eingehen.
Zur Klostermedizin der Mönche des mittelalterlichen Zisterzienserklosters Amelungsborn wird auf die Darlegung „Hilf, Bruder Infirmarius!“ von GÖHMANN [8] verwiesen.
Pharmaziemuseum der Universität Basel
© [hmh, Foto: Klaus A.E. Weber
Effiziente Medizin im Mittelalter
Im Mittelalter begegnen wir einer klösterlich geprägten Heilkunst mit jenen heilkundlichen Behandlungsmethoden, die uns später noch in der konkreten Beschreibung volksmedizinischer Traditionen im Solling beschäftigen werden.
Die Medizin des Mittelalters basiert innerhalb wie außerhalb der Klöster im Wesentlichen auf der klassischen griechisch-lateinischen „Viersäftelehre“ mit den vier Elementen
-
Luft
-
Feuer
-
Erde
- Wasser.
Anklänge hieran finden sich durchaus auch im „Abergläubischen Allerlei“ der überlieferten Volks- und Dorfmedizin im Solling.
Aufgespielt im August 2015
Klosterfrau Thekla mit ihrer Schwester Barbara
Pestjahr 1349 in Gelnhausen
© [hmh, Foto: Klaus A.E. Weber
In mittelalterlichen Klöstern – den kulturellen Trägern medizinischen Wissens - befassten sich Mönche wie Nonnen im Kontext ihrer christlichen Gartenkulturmit der Pflanzenheilkunde.
Sie verfügten über grundlegende Kenntnisse des Anbaus von Küchenkräutern und zur Heilwirkung von Kräutern, Heil- und Arzneipflanzen – den einzigen wirksamen Medikamenten jener Zeit.
Heilkundige Mönche und Nonnen - "starke Frauen im Mittelalter" - verbesserten alte Rezepturen und entwickelten neue.
Zudem fertigten sie Abschriften von Kräuterbüchern an, wobei sie sich meistens auf Angaben griechischer und römischer Gelehrter der Pharmazie und Heilkunst stützten.
Wie der 2010 von SCHUBERT für die klassische „Schulmedizin“ hinterlegte Begriff „Buchmedizin“ anschaulich werden lässt, verfasste die klösterliche oder akademische Medizin ihr Gesundheitswissen schriftlich mit Auswirkungen auf die Lebensordnungen.
So wurde antikes und zeitgenössisches Medizinwissen universitär oder in Klöstern von Arzt zu Arzt in schriftlicher Form durch „Fachliteratur“ und durch „Vorlesungen“ weitergegeben.
In verschiedener Form und Dosierung blieb die traditionelle Kräutermedizin lange das Mittel der Wahl in der medizinischen Praxis.
Das Wissen um die Heilungskraft von Kräutern war ehemals in nicht-ärztlichen Laienkreisen weit verbreitet - und wurde ärztlich ausdrücklich gefördert.
Als wesentlicher Teil mittelalterlicher Medizin gilt die „Mönchsmedizin" bzw. „Klostermedizin“, die medizingeschichtlich die Zeitspanne vom Frühmittelalter bis zum Hochmittelalter umfasst.
Während der Hauptphase der „Klostermedizin“ vom 8. Jahrhundert bis Mitte des 12. Jahrhunderts oblag die medizinische Versorgung in Europa ausschließlich Mönchen und Nonnen, da die Medizin in jener Zeit als ein Handwerk und als angewandte Theologie galt.
Außerhalb von Klostermauern erfolgte daher auch keine Ausbildung für Ärzte.
Ohnehin galten Krankheiten als von Gott gesandt und eine Heilung ohne Gottes Hilfe erschien als unmöglich.
So wurde die Pest – der Inbegriff für alle Seuchen des Mittelalters und der frühen Neuzeit – als „Geißel Gottes“ aufgefasst.
Wie noch zu zeigen ist, spiegelt sich diese mittelalterlich religiöse Sicht noch in der einen oder anderen Variante der Volks- und Dorfmedizin im Solling wieder.
Von den antiken griechischen Heilprinzipien mit Wasser- und Phytotherapie geprägt, beruhte sie während des 8.–12. Jahrhunderts vornehmlich auf der Phytotherapie – Heilen mit Kräutern und Arzneipflanzen - und auf der Hydrotherapie.
Entscheidend für den mittelalterlich-christlichen Heilungsansatz war, den Körper als Partner der Seele anzusehen.
Heilkunde - Die Frau als Hausärztin [7]
Von Frau zu Frau
Weitergabe heilkundlichen Wissens durch mündliche Überlieferung
In der anfangs skizzierten mittelalterlich geprägten Volksmedizin erfolgte die Weitergabe traditionellen heilkundlichen Wissens der weisen Frauen durch mündliche Überlieferung - als Kräuterfrauen, Pflegerinnen, Ratgeberinnen, Heilkundige und auch als Hebammen.
Dabei floss zudem auch Wissen aus eigenen Erfahrungen ein.
Als nicht-akademische „Ärztinnen des Volkes“ kannten die weisen Frauen seltene und begehrte Heilkräuter, deren bevorzugten Standorte und den magischen Zeitpunkt ihres Pflückens.
Sie wussten als Hebammen über Möglichkeiten der Geburtenkontrolle, der Schwangerschaftsverhütung und über natürliche Mittel zum Schwangerschaftsabbruch.
Nicht nur aus physiologischen Gründen befand sich seit alters her die Betreuung der Schwangeren, der Gebärenden und der Wöchnerin ausschließlich in den Händen von Frauen.
Über Generationen hinweg wurde das Wissen um die Geburtsvorgänge von Frau zu Frau vermittelt.
Fettewase │ Reuikewase │ Christinewase und das Besprechen
Dem kirchlich-religiös geprägten Mittelalter entspringend war in alter Zeit das volksmedizinische Gesundheitswissen in den entlegenen Sollingdörfern eng verknüpft mit abergläubischen oder metaphysischen Praktiken und Ritualen.
Wie Wolfgang Schäfer aus seinem Heimatort Lippoldsberg am Westrand des Sollings berichtete, war um 1839 ein Totenbeschauer der wichtigste Heilkundige in Lippoldsberg, der „im Notfalle schröpfen und aderlassen“ konnte.
Auch der Schäfer sei ein wichtiger Heilkundiger gewesen.
Er stand am Rande der dörflichen Gemeinschaft, da dessen Beruf als „unehrlich“ angesehen wurde.
Dennoch suchten Dorfbewohner bei schwerwiegenden Erkrankungen den Rat des Schäfers.
Die von ihm gelieferten Schafläuse galten als eine Art Wundermittel bei Gelbsucht – allerdings nur dann, wenn die Ektoparasiten in einer „Schafläusekur“ frisch und lebend eingenommen wurden.
Noch heutzutage wird die Schaflaus oder Schafszecke – zoologisch: Schaf-Lausfliege (Melophagus ovinus) - von gesunden und artgerecht gehaltenen Schafen als altes Hausmittel therapeutisch gegen verschiedene Lebererkrankungen geschluckt, wie eben beispielsweise gegen Gelbsucht.
Dabei ist eine gesundheitliche Wirkung der lebend eingenommenen Ektoparasiten gegen Lebererkrankungen weder wissenschaftlich belegt noch medizinisch plausibel.
Solange im Solling die „Fettewase“, „Reuikewase“ oder „Christinewase“ oder auch der „Orgvetter“ das Besprechen verstanden - also anhaltenden therapeutischen Erfolg hatten - wanden sich die Sollinger nicht an einen Arzt.
Für jede Erkrankung, die besprochen werden konnte, gab es in der Volksmedizin des Sollings besondere Besprechungsformeln, Bautesprüche und Gebete, die allerdings nicht an jedem Tag angewandt werden durften, um deren Erfolg nicht zu gefährden.
Hierzu von SOHNREY überlieferte Erkrankungen sind
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Augenerkrankungen
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Blasen auf der Zunge
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Flechte (Lichen; Knötchenflechte, Knötchenausschlag)
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Flöhe
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Gicht (Arthritis urica)
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„Dat Hilge“ / dat hilge Wark“ (Erysipel, Wundrose)
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Schnittwunden
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Suirken („Säuerchen“, „Mundfäulnis“, Stomatitis ulcerosa)
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„Oberbein“ („Überbein“)
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Warzen
- Zahnschmerzen.
Die wirtschaftliche Not lies bei den „armen Leuten im rauen Solling“ stets die bange Frage aufkommen, ob die zu erwartende ärztliche Honorarforderung überhaupt beglichen werden könne.
So konnte von der Hellentaler Familie wegen der Kosten weder ein Arzt geholt, noch konnten „lindernde Medikamente“ beschafft werden, als der Waldarbeiter und Maurer Christian Bartels um 1861 an Magenkrebs erkrankte.
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[1] SIECK 2011, S. 6.
[5] HASS 2011.
[6] MEYER 2020.
[7] Abb. aus FISCHER-DÜCKELMANN 1926.
[8] GÖHMANN 1982, S. 96-102.