Zur regionalen Palliativversorgung
Klaus A.E. Weber
Leitender Medizinaldirektor / Amtsarzt a. D.
2013 - Ambulante Palliativversorgung
Einjährigen Bestehens der ambulanten Palliativversorgung im Landkreis Holzminden
Am 10. April 2013 wurde in Stadtoldendorf das einjährige Bestehen der Spezialisierten ambulanten Palliativversorgung im Landkreis Holzminden gefeiert.[1]
Den ersten Jahrestag der spezialisierten ambulanten Palliativversorgung im Landkreis Holzminden zu begehen, war in vielerlei Hinsicht etwas Besonderes in der Krankenversorgung im Landkreis Holzminden.
Denn auch im Landkreis Holzminden gewann die Palliativversorgung an Bedeutung.
Dennoch standen hierbei Fragen im Raum:
- Wieso ist es zu Beginn des 21. Jahrhunderts so etwas Besonderes, Menschen im fortgeschrittenen Stadium ihrer unheilbaren Erkrankungen zu beraten, zu unterstützen, zu begleiten und zu pflegen?
- Ist das Ziel des Palliativnetzes Region Holzminden mit seiner jetzt einjährigen spezialisierten ambulanten Palliativversorgung tatsächlich so etwas Besonderes, Patienten zu ermöglichen, die verbleibende Lebenszeit zu Hause und mit einer bestmöglichen Lebensqualität zu verbringen?
- Bedeutet die Einrichtung eines Palliativnetzes allgemein und die einer spezialisierten ambulanten Palliativversorgung im Besonderen nicht zugleich auch eine Entfremdung der modernen kurativen Medizin und Pflege von ihrer ursprünglichen Methodik, Ausrichtung und Einstellung?
- Welchen Stellenwert hat die spezialisierte ambulante Palliativversorgung in dem Prozess der weiteren Ökonomisierung der Medizin mit Bonuszahlungen und Streben nach Effizienz und wirtschaftlichem Handeln einerseits und in der geforderten qualitativ hochwertigen, empathischen Patientenversorgung andererseits?
- Wie kann die Palliativversorgung, insbesondere die spezialisierte ambulante Palliativversorgung zukunftsfähig weiterentwickelt werden, wenn immer weniger Nachwuchsmediziner als Hausärzte praktizieren wollen?
Das Leiden von Patientinnen und Patienten zu lindern und sie zu unterstützen war also bereits in der frühen Neuzeit eine der zentralen und elementaren Aufgaben des Arztes.
So befassten sich seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert Mediziner zunehmend mit Fragen einer adäquaten palliativen Krankheitsbehandlung.
Jedoch wurde dann im ausgehenden 19. und 20. Jahrhundert dieses ärztliche, empirisch geprägte Engagement mit dem Aufstieg der modernen, vornehmlich wissenschaftlich-technisch agierenden Medizin in den Hintergrund gedrängt.
Die positivistisch gewandelte, primär kurative Medizin „verlernte“ allmählich in der Behandlung, Sterben zu akzeptieren und den Tod als Teil des Lebens zu verstehen.
Es ist bekannt, dass sich die kurativ-medizinische Betreuung von Patientinnen und Patienten mit weit fortgeschrittenen, unheilbaren Erkrankungen einseitig auf Heilungsbemühungen bis zum Lebensschluss konzentriert, auch wenn prognostisch keine Erfolgsaussichten mehr bestehen.
Dabei wurden und werden noch immer Patientinnen und Patienten oft mit ihren Symptomen und ihrer Angst vor dem Sterben und dem Tod alleine gelassen – nicht selten abgeschoben in abgelegene, unwürdige Räumlichkeiten.
Es dauerte viele Jahre bis in Deutschland die erste palliativmedizinische Einrichtung geschaffen wurde.
Im April 1983 wurde in der Klinik für Chirurgie des Universitätsklinikums Köln eine palliativmedizinische Modellstation eröffnet.
Elf Jahre später, im Juli 1994, wurde die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin gegründet mit dem Ziel, den Aufbau und Fortschritt der Palliativmedizin zu fördern und die bestmögliche Versorgung der Patientinnen und Patienten anzustreben.
Im Mai 2003 führte der Deutsche Ärztetag Palliativmedizin als Zusatzweiterbildung in die Muster-Weiterbildungsordnung ein.
Diese Zusatzweiterbildung wurde in den folgenden Jahren von Landesärztekammern in ihre Weiterbildungsordnungen übernommen.
Eine der wesentlichen Herausforderungen der nicht primär kurativ tätigen Palliativmedizin ist nach wie vor die Schaffung von Strukturen, mit denen eine palliativmedizinische Versorgung und Betreuung ermöglicht wird.
Hierzu zählen Vernetzung, Kooperationen und Teambildungen.
Darüber hinaus ist es entscheidend, die palliativmedizinische Versorgung und Betreuung aus dem „Nischendasein“ in der kurativ einseitig entwickelten und zunehmend ökonomisch orientierten Hightech-Krankenversorgung heraus zu führen.
Die umfassende ambulante Versorgung und Betreuung schwerkranker Patientinnen und Patienten mit unheilbaren Erkrankungen erfordert ein engagiertes Team und Netzwerk aus Ärztinnen und Ärzten mit palliativmedizinischer Zusatzweiterbildung, in der Palliativversorgung geschultes Pflegepersonal und andere Personen aus weiteren Institutionen.
Kennzeichnend für die Palliativversorgung allgemein und für die Palliativmedizin im Besonderen ist, dass beide bei den meisten von Patientinnen und Patienten mit wenig technischen Maßnahmen auskommen, dem hingegen der personelle und zeitliche Aufwand aber umso größer ist.
Das Mitmenschliche tritt in den Vordergrund, in den Hintergrund hingegen das kurativ-medizinisch mit technischem Aufwand jeweils Machbare.
Ausschlaggebend, in welchem Maß und Umfang Patientinnen und Patienten einer individuellen Versorgung in ihrer vertrauten Umgebung bedürfen, gliedert sich die heutige Palliativversorgung in zwei Bereiche – in die allgemeine Basisversorgung und in die spezialisierte Versorgung.
Nach dem Sozialgesetzbuch V haben seit April 2007 Versicherte mit einer nicht heilbaren, fortschreitenden oder weit fortgeschrittenen Erkrankung einen Anspruch auf spezialisierte ambulante Palliativversorgung als eigenständige Regelleistung der gesetzlichen Krankenkassen.
Dabei handelt es sich um Patientinnen und Patienten, deren Lebenserwartung begrenzt ist und die einer besonders aufwändigen Versorgung bedürfen.
Palliativpatientinnen und -patienten, die diesen besonderen Bedarf nicht aufweisen, werden weiterhin im Rahmen derzeitiger Strukturen in der Basisversorgung betreut.
2021 - Planung Hospizbau „Solling-Hospiz Christine Amalie“
Die Planung Hospizbau „Solling-Hospiz Christine Amalie“ als Zentrum für integrierte Palliativversorgung Stadtoldendorf/Holzminden wurde am 26. November 2021 in Deensen vorgestellt.
Namensgebung Christine Amalie [2]
Dem kirchlich-religiös geprägten Mittelalter entspringend ist die Heilkunde jahrhundertelang zumeist Frauensache – wie in der heutigen Palliativversorgung.
Die Weitergabe des traditionellen heilkundlichen Wissens weiser Frauen erfolgte durch mündliche Überlieferung von Frau zu Frau - als Kräuterfrauen, Pflegerinnen, Ratgeberinnen, Heilkundige und auch als Hebammen.
In diesen historischen Kontext kann unsere namensgebende Protagonistin Christine Amalie als typische Vertreterin einer seit dem Mittelalter bewegten weiblichen Heilkunst eingeordnet werden.
Mit meinen nun folgenden Ausführungen möchte ich versuchen, Ihnen Christine Amalie etwas näher vorzustellen, die von 1850 bis 1923 im Solling lebte und wirkte.
Lassen Sie sich dabei von dem Charme ihres ungewöhnlichen Lebensbildes einfangen.
In alter Zeit ist das volksmedizinische Gesundheitswissen in den entlegenen Walddörfern des rauen Sollings eng verknüpft mit kirchlich-religiös geprägten, auch abergläubischen oder metaphysischen Praktiken und Ritualen.
Insbesondere in dem „fast tirolerisch anmutenden Holzhauerdorf“ Hellental vollzieht sich die gesundheitliche Versorgung sehr lange in einem Umfeld von tiefer Religiosität, unerschütterlichem Aberglauben und Mystizismus.
Der Verhütung gesundheitlichen Unheils durch volksmedizinisches Handeln wird mehr zugetraut als einer ärztlichen Beratung und Behandlung.
Das Vertrauen der armen Leute in den abgelegenen Sollingdörfern in die tradierte Volksmedizin ist jahrhundertelang ausgeprägt, zumal sie auch vor Ort rasch und meist kostengünstig verfügbar ist.
Vor dem Hintergrund von großer Armut, Trost- und Hoffnungslosigkeit, Not und Bitterkeit wirkt Christine Amalie in Hellental bei armutsassoziierten Schicksalen – als Heilkundige, Palliativpflegerin, Ratgeberin und Seelsorgerin.
Am 22. März 1850 wird Johanne Christine Amalie – so die vollständigen Vornamen - als uneheliches Kind in der alt eingesessenen evangelischen Schorborner Familie Grupe geboren.
Im Alter von 14 Jahren tritt Christine Amalie zunächst eine Anstellung als Kleinmagd auf einem Bauernhof an der Weser bei Holzminden an.
Um ihrer jüngeren Schwester Platz zu machen, geht Christine Amalie als 21-Jährige in einen städtischen Bürgerhaushalt in Holzminden in Stellung.
Im November 1873 heiratet die 23-jährige Christine Amalie in Deensen den 25-jährigen Hellentaler Wegarbeiter Friedrich Wilhelm Christian Schütte, der den Webstuhl gegen die Axt eingetauscht hatte.
So kommt Christine Amalie jungvermählt von der Kreisstadt Holzminden wieder in den rauen Solling zurück.
Aus der Ehe von Wilhelm und Christine Amalie gehen zwischen 1871 und 1891 sieben Kinder hervor – drei Mädchen und vier Knaben.
Der im November 1891 in Hellental letztgeborene Ernst August Ludwig stirbt im Februar 1976 in Stadtoldendorf.
Die seinerzeit über Hellental weit hinaus bekannte Christine Amalie gilt ob ihrer großen Seele und ihrem uneigennützigen, naturmystischen Wirken als eine herausragende Persönlichkeit des abgelegenen Arbeiterdorfes.
Für die damaligen dörflichen Sozialverhältnisse dürfte Christine Amalie eine gebildete Frau gewesen sein, die über besondere volksmedizinische Vorstellungen und heilkundliche Kenntnisse verfügte.
Diese hat sie vornehmlich in Schorborn von ihrer Mutter Magdalene Justine Amalie Grupe mündlich erworben.
Auch die mehrjährigen Dienstzeiten jenseits des Sollings beim kleinstädtischen Bürgertum in Holzminden dürften Christine Amalie in der ländlichen Gesundheitspflege geschult haben.
Die tiefe christliche Einstellung und die stete Hilfsbereitschaft von Christine Amalie, insbesondere aber ihr soziales und volksmedizinisches Engagement in der Dorfgemeinschaft gilt als beispielgebend für Hellental.
Am 01. Januar 1923 verstirbt Christine Amalie in Hellental unerwartet im Alter von 72 Jahren.
Story der weiblichen Heilkunst von Christine Amalie
Im Vergleich zu benachbarten Kleinstädten an den Sollingrändern ist die landärztliche Grundversorgung in den von Armut gekennzeichneten Walddörfern des Sollings weitaus prekärer.
Das betrifft insbesondere Schwangere, Mütter und Kinder.
Zugleich lässt die wirtschaftliche Not stets die bange Frage aufkommen, ob die zu erwartende ärztliche Honorarforderung überhaupt beglichen werden kann.
Weit entfernt von der landärztlichen Grundversorgung wandte man sich im abgelegenen Hellental in allen Krankheitsfällen zunächst immer an die heilkundige und hilfsbereite Christine Amalie.
Eingekleidet im ortsgewebten Beiderwandsrock mit gestreifter Schürze ist daher Christine Amalie oft unterwegs bei der Krankenversorgung von Mensch und Tier.
Zugleich ist Christine Amalie auch als „Leichenfrau“ tätig, in dem sie die Waschung frisch Verstorbener vor deren Einsargung durchführt.
Neben der Hebamme wird Christine Amalie auch bei Geburten hinzugezogen, die zu oft mit einem harten Überlebenskampf für Mutter und Kind einhergehen.
Zudem besucht Christine Amalie, tröstend oder pflegend jene Kranken, die bettlägerig sind.
Wie die mittelalterlichen Heilerinnen kennt sich Christine Amalie mit der Zubereitung und Anwendung von Heilkräutern aus, die sie in dem reichhaltigen Pflanzenbestand der „grünen Wald- und Wiesenapotheke“ des Sollings findet.
Darüber hinaus beherrscht sie vor allem auch das Handauflegen und die Anwendung von Besprechungsformeln als rituelle magische Heilmethoden.
Da eine antibiotische Behandlung in jener Zeit noch nicht verfügbar ist, behandelt Christine Amalie beispielsweise Wöchnerinnen mit schwerer, schmerzhafter Brustdrüsenentzündung – ein häufig auftretendes Problem in der Stillzeit - durch Umschläge.
Für die Wickel bereitet sie einen steifen Brei aus Leinsamen, Milch und Mehl zu.
Oft wendet Christine Amalie auch gewisse „Beschwörungsformeln” an, was landläufig „besprechen“ genannt wird.
Mit ihren Besprechungsformeln stützt sich Christine Amalie auf die Magie der Sprache, mit der sie Heilungsbestrebungen aktivieren will.
Sprache kann Trost vermitteln.
Christine Amalie spricht als heilendes Medium ihre Formeln offen und laut aus.
So soll sie beispielsweise bei der zur damaligen Zeit weit verbreiteten Kinderkrankheit „Scheuerschen“ dreimal gesagt haben:
„Was ich hier finde – der liebe Gott gebe, dass es schwinde“.
Dabei streicheln ihre Hände dreimal das erkrankte Kind.
Im 18./19. Jahrhundert gilt „Scheuerchen“ als die häufigste Todesursache bei Kindern vornehmlich in den ersten Lebenswochen und Lebensmonaten.
Von den von Christine Amalie bei ihrer Behandlung von Kranken zu Grunde gelegten Betrachtungsweisen ist anzunehmen, dass diese eine nicht zu unterschätzende psychische Zuwendung im dörflichen Leben gespielten, wo trostlose Lebens- und Arbeitsbedingungen vorherrschten.
Immer dann, wenn es ums Sterben geht und Angehörige ratlos sind, wird Christine Amalie gerufen.
Sie übernimmt dann die Pflege, gibt Trost und Hoffnung, betet mit den Kranken und erleichtert mit ihrer sanften Hand das Sterben.
So sitzt Christine Amalie oft am Bett von Gebärenden, Kranken und Sterbenden; pflegt und heilt mit Intuition, ruhiger Anteilnahme und intensiver Zuwendung – wie auch in Kenntnis und Anwendung von Kräutern und Heilpflanzen.
Christine Amalie wirkt also nahe an den existenziellen Lebensbereichen von Geburt und Tod.
Im Alter von allen liebevoll „Stinewase“ genannt, wird die merkwürdige Holzhauerfrau weit über das Arbeiterdorf Hellental hinaus von Jung und Alt gleichermaßen als gutmütige Frau tief verehrt.
Als stets geschätzte „Hellentaler Stinewase“ kann Christine Amalie als multi-tasking-fähige „Gemeindeschwester“ charakterisiert werden.
Modern formuliert, wirkte Christine Amalie in der dörflichen ambulanten Palliativversorgung – quasi als frühe „Palliativschwester“.
Abschließend hoffe ich, dass es sich nach meinen Ausführungen nachvollziehen lässt, weshalb das neu geschaffene Solling-Hospiz als Zentrum für integrierte Palliativversorgung Stadtoldendorf/Holzminden den Namen „Christine Amalie“ trägt.
Es sind jene beiden Vornamen der heilkundigen Holzhauerfrau im Solling, welche bereits zu ihrer Zeit im Sinne des Palliativ-Netzes Region Holzminden handelte.
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[1] Grußwort des Amtsarztes Dr. Klaus A.E. Weber am 10. April 2013 in Stadtoldendorf anlässlich des einjährigen Bestehens der Spezialisierten ambulanten Palliativversorgung im Landkreis Holzminden.
[2] Vortrag von Dr. Klaus A.E. Weber, Ltd. Medizinaldirektor i.R. und Vorsitzender des Heimat- und Geschichtsvereins für Heinade-Hellental-Merxhausen e.V., bei der Vorstellung des Projektes „Solling-Hospiz Christine Amalie“ als Zentrum für integrierte Palliativversorgung Stadtoldendorf/Holzminden am 26. November 2021 in Deensen.