Die große Peitsche: Cholera in Mitteleuropa

Klaus A.E. Weber

Leitender Medizinaldirektor / Amtsarzt a. D.

 

Cholera - Ein historischer Rückblick

Er(n)ste Begegnung mit der „mysteriösen Seuche aus der Ferne“

  • Cholera Morbus
  • Cholera asiatica / indica / epidemica

  • asiatische / morgenländische / indische / epidemische Brechruhr

Nach WULF [1] vermeldete im Herbst 2022 die WHO, „dass es so viele aktuelle Ausbrüche von Cholera gibt, wie seit Jahren nicht mehr (in 29 Ländern weltweit)“ – im Zusammenhang mit schweren humanitären und dramatisch zunehmenden klimabedingten Krisen.

Jene epidemische Zunahme zeige, „die sozialen und strukturellen Ungleichheiten und Defizite auf, die solchen Epidemie-Ausbrüchen zu Grunde liegen und die mit Nothilfe nicht zu bewältigen sind“.

Die Cholera ist die große Seuche der Globalisierungswelle des 19. Jahrhunderts, die sich im Kontext mit britischen Handelsschiffen und Kolonialarmeen pandemisch verbreitete – „in mehreren Wellen vom indischen Subkontinent aus in die wachsenden Städte Europas, Asiens und den Amerikas“.[1]

 

Transkontinentale Ausbreitung der zweiten Cholera-Pandemie 1826-1841

Die Cholera, die Krankheit von Schmutz, Elend und Armut, gilt als

  • die große Leitseuche des 19. Jahrhunderts

  • die „Lehrmeisterin der Medicin“

  • die Seuche der Industriegesellschaft

  • die Seuche des frühen Imperialismus mit wachsendem internationalem Schiffs- und Güterverkehr

  • die Seuche der Armen, Elenden und Ausgestossenen

Hierbei war die Hauptursache der Übersterblichkeit in Städten mit Abstand die Säuglingssterblichkeit (bis zu 50 %).

 

Kennzeichnung der ersten Cholera-Epidemie in Europa 1831/1832-1836

  • betraf mit hohem Anteil vornehmlich die proletarischen Elendsquartiere von Städten und neueren städtischen Ballungszentren

  • Seuchentypisches Zurückfallen in längst überholt geglaubte, primitive Verhaltensweisen, die Aufklärung war vergessen

  • Ausbreitung aufgrund schlechter sozialer Verhältnisse

  • Chaos / allgemeine Aufruhr / Volksaufstände - z.B. in Königberg, Paris (Heinrich Heine, 1832)

  • politische Polarisierung in der Cholera-Wahrnehmung

  • Gerüchte über die Ursache („Giftmischerei“): "die Reichen vergiften (mit Arsen) die Armen, da sie Angst vor ihnen haben" │ "in Wahrheit gibt es die Cholera nicht" (= Propagandalüge)

  • „Verdächtige“ werden von aufgebrachten Passanten erschlagen

  • Streit zwischen Miasmatikern und Vertretern der Ansteckungstheorie

  • "Contagionisten": staatliche Maßnahmen, wie Quarantäne, Absperren von Quartieren und Desinfektion

  • Prävention im Sinne bürgerlicher Ideale: "Zukunftsvorsorge durch gesunde maßvolle Lebensführung in einer sauberen Umwelt"

 

„Anweisung zur Bekämpfung der Cholera“

Im Jahr 1905 wurde in amtlicher Ausgabe eine „Anweisung zur Bekämpfung der Cholera“ in Berlin herausgegeben (Verlag Julius Springer), die auf Vorschlag des Kaiserlichen Gesundheitsamtes und des Reichs-Gesundheitsrates in der Sitzung des Bundesrates vom 28. Januar 1904 festgestellt worden war.

 

© Historisches Museum Hellental

 

Es ist rund zwei Jahrhunderte her, dass zu Beginn des 19. Jahrhunderts erstmals eine verheerende Cholera-Pandemie auch in Europa wütete.

Dieser ersten Cholera-Welle von 1831/1832 folgten weitere Cholera-Epidemien unterschiedlicher regionaler Ausprägung.

Sie veränderten für einige Jahre vielgestaltig und nachhaltig das politische, soziale und kulturelle Leben der Menschen, die Rechtsnormen und das Medizinalwesen bis hin das öffentliche Gesundheitswesen des 19. Jahrhunderts.

Hinsichtlich des Quellenwertes zeitgenössischer Berichte und lokaler Daten zur „Cholera“ ist anzumerken, dass diese kritisch zu betrachten sind.

Im 19. Jahrhundert und noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde ärztlich zwischen der „wirklichen Cholera“ (Cholera morbus/asiatica/indica/epidemica – asiatische, morgenländische oder indische epidemische Brechruhr) und der endemischen „Cholera nostras“ („einheimische Gallenruhr“) resp. „sporadischen Cholera“ („Cholerine“) unterschieden.

Auch Kirchenbücher, wie die oft viele Jahre später durch Erinnerungen und Erzählungen angefertigten Aufzeichnungen, geben keine eindeutige Auskunft darüber, welche der Choleraformen im Einzelfall tatsächlich auftrat bzw. zum Tode führte.

Dennoch ist davon auszugehen, dass es sich in den meisten Fällen tatsächlich um die nach ihrer geographischen Herkunft „Cholera asiatica“ genannten Erkrankung gehandelt haben dürfte.

Das Auftreten der Cholera überraschte in einer Zeit europäischer Revolutionen und politischer Kämpfe bei zunehmender Industrialisierung und komplizierter werdenden Sozialstrukturen.

Behördlich intervenierend wurde der Aufbau einer öffentlichen Gesundheitsfürsorge maßgeblich beschleunigt (z.B. Sicherung der hygienisch einwandfreien Trinkwasserversorgung).

Die Cholera betraf in jener Zeit mit hohem Anteil vornehmlich die proletarischen Elendsquartiere von Städten und neueren städtischen Ballungszentren; sie wurde zur „Seuche der Armen und Ausgeschlossenen“ und verschärfte somit zugleich auch die heftigen politischen und sozialen Proteste und Unruhen.

Die Cholera-Ausbreitung erfolgte auch aufgrund schlechter sozialer Verhältnisse der Armen, bei hoher Bevölkerungsdichte.

Sie betraf in der Regel etwa 1 % aller Einwohner, wobei von den Cholera-Erkrankten etwa 50–60 % verstarben.

Wie einst bei der Pest, so wurde auch bei der „gemeingefährlichen“ Cholera staatlich versucht, die im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit entwickelten Prinzipien der

  • Quarantäne

  • Isolierung

  • Desinfektion

  • Handelssperre

  • des „Cordons sanitaire“

anzuwenden.

Wie hierzu WULF [1] ausführt, entstanden aus den Cholera-Krisen in Europa in der Folgezeit exemplarisch Konzepte, „die zur langfristigen „Sanierung der Städte“ führten und öffentliche Verantwortung einforderten für sauberes Trinkwasser, Nahrungsmittelhygiene, Abfall- und Abwasserentsorgung, Verbesserung der Wohnmöglichkeiten der Arbeitenden und Armen und staatliche Interventionen im Krisenfall wie Quarantäne, Desinfektionen und Notlazarette“.

Allerdings mussten die im Selbstinteresse der gesamten Gesellschaft umfassend entstandenen „Public Health“-Konzepte „gegen den massiven Widerstand der lokalen Eliten durchgesetzt werden“, wie in Paris, London oder Hamburg.[1]

 

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[1] WULF 2023.