Flachsgewinnung

Klaus A.E. Weber

 

© [hmh, Fotos: Klaus A.E. Weber

 

Anbau von „Sommerlein“ (Faserlein)

Erst nach dem Dreißigjährigen Krieg, also erst nach 1648, hatte auch in dem armen braunschweigischen Weser-Distrikt die Leinenweberei einen deutlichen Aufschwung zum Gewerbe genommen, da nunmehr der landwirtschaftlich ausgerichtete Weserdistrikt stärker in das Blickfeld der Zentralverwaltung des finanzpolitisch erschütterten Landes Braunschweig getreten war.

Seit diesem Zeitraum wurde auch hier die alte Kultur- und Gewerbepflanze Lein aus ökonomischen Gründen verstärkt angebaut und verarbeitet.

Hintergrund hierfür war vornehmlich das herzogliche Bestreben, die höfisch strapazierten staatlichen Finanzmittel durch das zielgerichtete (merkantilistische) Erschließen neuer Finanzquellen aufzubessern - "Handel und commerce tunlichst zu befördern".

Zum Anbau der recht genügsamen, himmelblau blühenden, langfaserigen einjährigen Leinpflanze, die gut auf lösshaltigen Böden höherer Lagen gedeiht, eigneten sich offenbar auch die sandigen Lehmböden des Buntsandsteins im luvseitigen Solling.

Die bis zu einem Meter hoch wachsende Kulturpflanze wurde hier als „Sommerlein“ (Faserlein) angebaut, meist nahe den Dörfern.

Nach TACKE [5] waren die staatlich gelieferten baltischen Leinsaatsorten „Libausche“ und „Rigasche” für die klimatischen Verhältnisse des Weserberglandes besonders gut geeignet.

Durch die rasche „Flachsmüdigkeit“ des zum Leinanbau genutzten Ackerbodens (u.a. auch durch Nematodenbefall) war ein jährlicher Fruchtwechsel erforderlich.

Die Aussaat auf den ausgesuchten, eigenen oder gepachteten Feldern erfolgte regional unterschiedlich, in der Regel aber am 100. Tag des Jahres (10. April) resp. im Mai, die überwiegend von Frauen durchgeführte Flachsernte („Flachsraufen“) Ende Juli bis Anfang August.

Pro Morgen Ackerland betrug eine Durchschnittsernte etwa 75 Bunde.

Nach BUSSE [6] lag der Flachsertrag von 1 ha (10.000 m²) Anbaufläche bei etwa 9.500 kg Strohflachs mit Samen.

Hieraus konnten durch Spinnen 180 kg (1,9 %) bzw. 311 kg Werggarn (3,3 %) und 518 kg Flachsgarn (5,4 %) gewonnen werden.

2.090 kg Samenkapseln ergaben etwa 1.000 kg Leinsamen (48 %), aus denen durch Pressen und Extrahieren ca. 300 kg Leinöl (14 %) erzeugt werden konnten.

Der Zeitaufwand zur stufenweisen Herstellung verspinnbarer Fasern aus dem Flachs und die Produktion verkaufsfertiger Leinwand waren recht groß und die Arbeit sehr mühsam.

 

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"Vom Flachsrotten" im 18. Jahrhundert [8]

Reste einer Flachsrotte beim "Vogelbrunnen"

Hellental │ April 2020

© [hmh, Foto: Klaus A.E. Weber

 

„Flachsrotten“

Im ersten Verarbeitungsschritt wurden die im Sommer geernteten und zu großen „Wasserbunden“ zusammengebundenen „leeren“ Flachsstengel, abhängig von der Wassertemperatur, über etwa eine Woche oder länger (um 9 Tage) geschichtet und mit Brettern oder Steinen beschwert in ein stehendes Gewässer - in „Flachsrotten“ - eingelegt.

Danach wurden die Flachsrotten geflutet, um die hölzernen Stengelanteile zur Gewinnung der Gespinstfasern verrotten zu lassen (Wasserrotte).

Die bei der Flachsrotte natürlicherweise durch Gärvorgänge entstehenden Gasbildungen, die außerordentlich üble Faulgerüche entwickelten, erforderten eine Anlage der Rottekuhlen außerhalb des Dorfes und - bei in der Regel vorherrschendem Westwind - westwärts der Wohnbebauung.

Zudem durfte aus hygienischen Gründen keine direkte Verbindung der Flachsrotten zu jenen Fließgewässern oder Quellen bestehen, die zur dörflichen Trink- und Brauchwasserversorgung herangezogen wurden.

Sowohl in Heinade als auch in der Nähe von Hellental sind die ehemals zur dortigen Flachsgewinnung benötigten, etwa 1 Meter tiefen Flachsrotten heute nur noch als Reste alter „Rottekuhlen“ auszumachen.

Die meisten Flachsrotten wurden in den vergangenen Jahrzehnten verfüllt.

Mehrere verlandete Flachsrotten sind auf wenigen Privatgrundstücken in Heinade noch heute erkennbar erhalten.

 

Blick vom Heukenberg auf Heinade und den Holzberg

im Vordergrund/Bildmitte: alte Flachsrotte

Heinade │ Mai 2017

© [hmh, Foto: Klaus A.E. Weber

 

Um 1972 bestanden noch 34 Flachsrotten im Dorf, entsprechend der von 1756 bekannten Anzahl von Hausstellen in Heinade.

Für den häuslichen Verarbeitungsbedarf hatte jede Familie in Heinade hier ihren Flachs „rotten“ lassen.[1]

Einige der wenigen im Hellental noch erkennbar verbliebenen „Rottekuhlen“ befinden sich südwestlich vom Dorf im buchenbestandenen Nahbereich des alten, ehemals offenen „Vogelbrunnens“.

Weitere Flachsrotten sollen sich – nach überlieferten Dorferzählungen - zudem auch im Hellental um den alten „Teufelsbrunnen“ in der ortsnahen Talsohle nahe der Helle befunden haben.

Von den „in die Rotte gefahrenen“ Flachsbunden verblieben nach der Wasserrotte nur noch etwa 70 % zur weiteren Verarbeitung.

 

Schaukasten "Werdegang des Flachses"

Weberei Wilhelm Kübler & Co

Stadtoldendorf │ 1959

Heimatmuseum Seelze

© [hmh, Foto: Klaus A.E. Weber

 

Flachsernte und Flachsverarbeitung

Die faulig-mürben Pflanzenteile wurden langwierig getrocknet, mit einer „Holzbrake“ grob geschlagen und mit der „Handbreche“ gebrochen.

Die dabei vom Stengelholz gelösten Bastfasern zog man büschelweise durch ein Nagelbrett („Hechelkamm“ oder „Hechelbock“).

Bei dem so durchgehechelten Flachs wurden die Fasern gleichmäßig für den anschließenden Spinnvorgang ausgerichtet.

Die ausgekämmten Bastfasern wurden zu langen Zöpfen zusammengedreht und aufbewahrt.

Der letzte Arbeitsgang erbrachte schließlich eine verspinnbare Faser unterschiedlicher Qualität.[2]

Die regionale Flachsernte wurde von RAULS [7] in anschaulicher Weise beschrieben:

„Bei der Flachsernte werden die Pflanzen mit der Wurzel aus dem Boden gezogen, in der Sonne getrocknet und einige Wochen bündelweise in Rotten mit fließendem oder stehendem Wasser gelegt und mit Steinen beschwert, damit die Blätter und Grünteile verrotteten.

Danach folgte das Brechen oder Boken und das Schwingen des Flachses, um ihn von den anhaftenden Holzteilchen zu befreien.

Zur Trennung der Fasern wurde der Flachs auf einem mit spitzen Eisenstiften versehenen Brett gehechelt.

Schließlich wand man die Fasern um einen Stab und verzierte den spinnfertigen „Wocken“ oder „Rocken“ mit einer bunten Papierhülse, auf der Scherz- oder Liebessprüche zu lesen waren.“

Von dem geernteten Rohflachs blieb nur etwa 1/3 der Ausgangsmenge als reiner, hochwertiger Flachs übrig, etwa 2/3 als „Heede“ (Werg).

Als Hede wurden kurze, grobe Faserreste minderer Qualität bezeichnet (Heedegarn zur Herstellung von Schockleinen - Säcken, Stricken und Tauen).

Die Faseranteile besserer Qualität wurden als „kleine“, „feine“ oder „linnen“ ausgewiesen (Leinengarn zur Herstellung von Stiegenleinen).

Mittels Spinnrad wurden die aufbereiteten Flachsfasern zu Fäden gesponnen und von Leinenwebern auf dem Webstuhl zu Textilien verarbeitet.[3]

Im „Holzmindener Wochenblatt“ wurde 1787 zur Flachsverarbeitung im braunschweigischen Weserdistrikt berichtet:[4]

"Das vornehmste und zugleich nützlichste Produkt für die Untertanen ist der Flachs. Davon wird im Wesertal so viel gebaut, gesponnen und verwebt, daß das Bedürfnis an Hemden, Kitteln, Beinkleidern, Schürzen, Bett- und Tischtuch, Säcken und Saatlaken u. dgl. damit bestritten werden kann.

Das größte Gewerbe wird mit dem Legge-Linnen gemacht.

Es hat seinen Namen daher bekommen, weil es beim Einkauf über einen Tisch oder Bank gelegt und gezogen, und auf solcher nach der Länge und Breite gemessen und nach der Güte beschaut wird …

Das Leggelinnen wird aus Hede und Flachsgarn gewebt und tuchweise zu 15 Ellen verkauft."

 

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[1] HAHNE 1972.

[2] BUSSE 2002, S. 8 ff.

[3] HENZE 2004, S. 70; BUSSE 2002, S. 8 ff.

[4] zit. in RAULS 1983, S. 134.

[5] TACKE 1943, S. 87.

[6] BUSSE 2002, S. 5.

[7] RAULS 1974, S. 128-130; RAULS 1983, S. 133 f.

[8] Gelehrte Beyträge zu den Braunschweigischen Anzeigen │ 88tes Stück 11.November 1769, S. 711-716 │ 89tes Stück 16.November 1769, S. 719-722.