Blattern - Die grassierenden Pocken

Klaus A.E. Weber

Leitender Medizinaldirektor / Amtsarzt a. D.

 

Die Pocken

  • im 18.-19. Jahrhundert epidemische und endemische Pockenausbreitung in Zentraleuropa

  • endemische Kinderkrankheit mit enormer Kindersterblichkeit (0-7 Jahre) mit der Folge eines geringen Bevölkerungswachstums

  • Entwicklung und Durchsetzung der Schutzimpfung im 18./19. Jahrhundert

  • Inkubationszeit: 8-17 Tage

  • Übertragung: direkt von Mensch zu Mensch

 

1972 Letzter Pockenfall in Deutschland (Hannover)

1977 Letzter natürlicher Pockenfall (Somalia)

1980 WHO erklärt die Pocken offiziell für eradiziert

 

© Historisches Museum Hellental

 

Der Krankheitserreger der Pocken oder Variola (auch Blattern) ist das Variola-Pockenvirus (Variola Major), das erst 1906 von Enrique Paschen (1860-1936) entdeckt wurde.

Die Übertragung des Pockenvirus erfolgte direkt von Mensch zu Mensch, vornehmlich durch einatembare Tröpfchen.

Ein tödlicher Krankheitsverlauf oder im Überlebensfall die Entstellung bis zur Unkenntlichkeit waren die Folgen der klinischen Pocken-Erkrankung.

Trotz unscharfer Quellennachrichten gilt es dennoch als recht wahrscheinlich, dass die hochansteckungsfähige Pocken-Erkrankung bereits um 1.000 v. Chr. in Indien und China aufgetreten war.

Pocken-Epidemien breiteten sich auch während der Römischen Kaiserzeit aus.

In Zentraleuropa kam es erst im 18./19. Jahrhundert zur epidemischen wie endemischen Pocken-Ausbreitung.

Infektionshistorisch wird vermutet, dass es während des 17./18. Jahrhunderts zu einer Virulenzsteigerung des Pockenvirus gekommen war, wobei der Dreißigjährige Krieg (1618-1648) eine epidemische Verbreitung der Pocken begünstigte.

Während des 18./19. Jahrhunderts kam es zur Entwicklung und Durchsetzung der wirksamen „Blatternimpfung“ (Pocken-Vakzination).

Deren Prinzip wurde am 14. Mai 1796 von dem englischen Wundarzt Edward Jenner (1749–1823) durch eine Arm-zu-Arm-Vakzination „geboren“.

Jenner soll bei seinem legendären Versuch frisches Kuhpockensekret von der mit Kuhpocken infizierten Kuhmagd Sarah Nelmes auf den pockengesunden Jungen James Phipps übertragen haben.

Das seuchenhistorisch hervorstechendste Merkmal der „Schwarzen Blattern“ - einer klinisch besonders schwerwiegenden (hämorrhagischen) Verlaufsform der Pockenerkrankung - war ihre

  • hohe Ansteckungsfähigkeit - Kontagionsindex: 95-100 % bei nicht-immunen Personen,

  • verbunden mit einer hohen Sterblichkeitsrate - Mortalität: 30-80 %.

Zudem wurden die Pocken zu einer endemischen Kinderkrankheit mit enormer Kindersterblichkeit im Alter bis zu etwa sieben Jahren.

Hieraus resultierte schließlich ein geringes Bevölkerungswachstum.

Eine weitere historische Besonderheit der Pocken-Erkrankung war, dass sie alle Gesellschaftsschichten gleichermaßen betraf und damit auch die Aufmerksamkeit der Herrschenden auf sich zog.

So blieb als Wiener (Volks-)Krankheit selbst das Habsburger Kaiserhaus von der grassierenden Infektionskrankheit nicht verschont.

Die Erzherzogin von Österreich, Königin von Ungarn und Königin von Böhmen, Maria Theresia (1717-1780) - älteste Tochter von Kaiser Karl VI. (1685-1740) und Elisabeth Christine von Braunschweig-Wolfenbüttel (1691-1750) - erkrankte im Jahr 1767 an den Pocken, die die Kaiserin überlebte.

Im selben Jahr erlag ihre 1751 geborene Tochter, die Erzherzogin Maria Josepha von Österreich, einer Pockeninfektion.

 

Ausstellung in der Kaiserlichen Wagenburg in Schönbrunn (2020-2021)

 

Maria-Theresien-Denkmal

Wien

Sitzfigur der ehemals auch

an Pocken erkrankten Kaiserin

Juni 2019

© [hmh, Fotos: Klaus A.E. Weber

 

„Bald hier, bald dort”

Sporadisch, „bald hier, bald dort” auftretende Pocken-Erkrankungen, wie auch „bösartige” Pocken-Epidemien („Blattern”-Epidemien) traten 1788/1789 und 1792/1793 in verschiedenen südhannoverschen Städten auf, so beispielsweise auch in der nahe gelegenen Landstadt Einbeck.

1757 sollen in der hiesigen Weserberglandregion 40 Kinder in Halle an den Pocken verstorben sein.[2]

Die Pockenerkrankungen gingen dort mit einer hohen Sterblichkeit in den Sommer- und Herbstmonaten einher, insbesondere Kinder im Alter von 1-5 Jahren betreffend.

Auch traten zusätzlich Windpocken (Varizellen) auf.

Ohnehin wurde in jener Zeit bei den "Blatter-Ausschlägen" klinisch unterschieden zwischen

  • „echter Menschenpocke”, auch „Menschenblatter“ (Variola) genannt

  • „Kuhpocke” / „Schutzpocke”

  • "unechter Menschenpocke” („Wasserblatter”).

Für die Dorf:Region zwischen Nordsolling und Holzberg konnten anhand von Kirchenbucheintragungen zwischen 1762–1872, also in 110 Jahren, insgesamt 26 dokumentierte Pocken-Sterbefälle erfasst werden.

Diese betrafen ausschließlich

  • Säuglinge

  • Kleinkinder

  • Kinder.

Inwieweit es sich hierbei im Einzelfall zweifelsfrei um die richtige medizinisch Diagnosestellung einer echten Pockeninfektion (Variola) handelte, ist nicht hinreichend nachvollziehbar.

 

1874 - Impfpflicht im Deutschen Kaiserreich

Während der "Franzosenzeit" (1806-1815) wurde die Pocken-Schutzimpfung als besonders fortschrittliche gesundheitspolitische Maßnahme im Braunschweiger Land flächendeckend durchgeführt.[1]

Um Pockenvirusinfektionen vorzubeugen, wurde schließlich im Deutschen Kaiserreich durch das Impfgesetz vom 08. April 1874 die „Impfung mit Schutzpocken“ (Schutzpockenlymphe) allgemein verpflichtend eingeführt, im Rahmen einer Wiederholungsimpfung Kinder im Alter von einem und zwölf Jahren gegen die Pocken mit einem Pockenimpfstoff impfen zu lassen.

Danach sollte gem. § 1 Reichimpfgesetz der Impfung mit Schutzpocken unterzogen werden:

  • jedes Kind vor dem Ablaufe des auf sein Geburtsjahr folgenden Kalenderjahres, sofern es nicht nach ärztlichem Zeugnis die natürlichen Blattern überstanden hat;
  • jeder Zögling einer öffentlichen Lehranstalt oder einer Privatschule, mit Ausnahme der Sonntags- und Abendschulen, innerhalb des Jahres, in welchem der Zögling das zwölfte Lebensjahr zurücklegt, sofern er nicht nach ärztlichem Zeugnis in den letzten fünf Jahren die natürlichen Blattern überstanden hat oder mit Erfolg geimpft worden ist.

Jeder Impfling musste frühestens am sechsten, spätestens am achten Tag nach der Impfung dem impfenden Arzte vorgestellt werden (§ 5).

In jedem Bundesstaat wurden Impfbezirke gebildet, deren jeder einem Impfarzte unterstellt wurde (§ 6).

Der Impfarzt nahm in der Zeit vom Anfang Mai bis Ende September jeden Jahres an den vorher bekannt zu machenden Orten und Tagen für die Bewohner des Impfbezirks Impfungen unentgeltlich vor (§ 6).

Für jeden Impfbezirk wurde vor Beginn der Impfzeit eine Liste der der Impfung unterliegenden Kinder von der zuständigen Behörde – Gemeindevorstand/Schulvorsteher - aufgestellt (§ 7).

 

1805

Aus dem Sterberegister der Kirchengemeinde Gottsbüren für das Jahr 1805:

Hierunter befinden sich allein 18 Kinder, welche durch von den Eltern in strafbarer Weise versäumte Vakzination ein früher Raub des Todes wurden,

denn alle übrigen geimpften Kinder dahier blieben nicht allein glücklich am Leben, sondern auch allen gemachten Versuchen ungeachtet, von den natürlichen Blattern gänzlich verschont.

Zum Andenken und zur heilsamen Warnung der Nachwelt.

 

1871

Auf dem Großkothof Ass.-№ 12 in Deensen verstarben 1871 Heinrich Müller (58 Jahre) und seine Ehefrau Johanne Timmermann (48 Jahre) aus Merxhausen an den „schwarzen Blattern”.

 

1912

Der Gemeindevorstand zu Merxhausen war von der Herzoglichen Kreisdirektion Holzminden mit Schreiben vom 04. März 1912 aufgefordert worden, die "Schulzöglinge" zur Pocken-Schutzimpfung durch den Schulvorstand Merxhausen zu erfassen und die Liste der Kreisdirektion Holzminden mitzuteilen.

 

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[1] STRAUSS 2000.

[2] RAULS 1974, S. 123.