Ururenkelin erinnert sich

Maren Hansmann

 

Stinewase [1]

Die Stinewase muss eine ganz besondere Frau gewesen sein – das schwang immer mit, wenn meine Oma von ihrer Oma erzählte.

Als ich gebeten wurde, etwas zu meiner Ururgroßmutter zu schreiben, war mein erster Gedanke: „Ich kannte sie doch gar nicht mehr persönlich und ich war selbst noch ein Kind, als meine Oma mir von ihr berichtete, da kann ich doch gar nichts Genaues mehr zu beitragen…“.

Nachdem ich dann ein paar Nächte darüber geschlafen hatte, dachte ich, es ist wohl aber genau das, was wichtig ist und von einem Leben bleibt - die Eindrücke, die die Zeit überdauern und die waren nicht spektakulär aber durchaus einprägsam.

An keinen anderen Vorfahren meiner Familie wurde so ehrfurchtsvoll erinnert, wie an sie.

Meine Oma Emilie Hansmann (geb. Schütte) konnte sich noch an einige Begebenheiten entsinnen, als sie selbst noch ein kleines Mädchen war und die Menschen aus Hellental ihre Oma Stine aufsuchten und sie um Hilfe baten.

Stine hat deren Beschwerden mit Heilkräutern gelindert aber vor allen Dingen wohl mit ihrer Präsenz.

Stine hat die Menschen berührt.

Mit ihren Händen, ihrem Sein und ihrem Blick.

Wohl hat sie die Krankheiten auch besprochen und für die Genesung der Kranken gebetet.

Auch mit kranken Schafen und Ziegen kamen die Dorfbewohner zu ihr und auch bei ihnen legte sie ihre Hände auf und konnte sie so heilen.

Stine war eine Frau mit einer außergewöhnlichen inneren Stärke, die großes Vertrauen genoss und sie hatte diesen besonderen Blick einer alten Seele, der Trost und Mut zusprach, davon erzählte meine Oma immer wieder.

Und manchmal kuckte meine Oma mich versonnen an und sagte: „Kind, du hast dieselben Augen wie Oma Stine.“

Ich konnte damit damals nicht viel anfangen, aber ich fühlte, dass es etwas Gutes zu sein schien. (Heute ehrt mich dieser Ausspruch meiner Oma natürlich sehr.)

Meine Oma berichtete auch, dass Stine meist mit Naturalien - wie mit Eiern oder Butter -  für ihre Heilerdienste bezahlt wurde.

Als Kind konnte ich aus den Erzählungen meiner Oma wahrnehmen, dass Stines Andenken - ihr „Geist“ - auch nach ihrem Tod noch spürbar weiterklang und in unserer Familie große Achtung genoss.

Natürlich mache ich mir heute meine Gedanken, was es wohl war, dass diese Frau so besonders machte

Ich vermute, dass die Menschen schon immer ein Gespür dafür hatten, dass unsere Gesundheit nicht auf den Körper reduziert werden kann, sie haben wohl geschätzt, dass Stine auch Psyche, Geist und Seele in ihren Heilmethoden mit einbezogen und den ganzen Menschen wahrgenommen hat, der da vor ihr stand (bzw. die Ziege…).

 

____________________________________________________

[1] Die in Holzminden lebende Ururenkelin von Johanne Christine Amalie Grupe erinnert sich im Januar 2024 an die „Stinewase von Hellental".