Der "Cichorien-Caffee"
Klaus A.E. Weber
Die Gemeine Wegwarte - die Zichorie (Cichorium intybus) - wird ab Mitte des 18. Jahrhunderts mit Getreide, wie Gerste oder Roggen, gemischt und geröstet als koffeinfreier Kaffee-Ersatzstoff genutzt.
Hierfür werden geerntete Zichorien-Wurzeln getrocknet, gedarrt, geröstet, zu Pulver zermahlen und als Ersatz für den Übersee-Kaffee verwendet.
"Wer hat’s erfunden?"
Die "Idee", Zichorien-Kaffee fabrikmäßig herzustellen, soll angeblich um 1760 der Major Christian (von) Heine (um 1723 - 1799) aus Holzminden mit seinem Braunschweiger Geschäftspartner Christian Gottlieb Förster entwickelt haben, was aber so einer historischen Überprüfung nicht standhält.
In seinem Aufsatz "Zichorienkaffee - eine Holzmindener Erfindung? Anmerkungen zur Geschichte des Hauses Böntalstraße 44 in Holzminden" geht SEELIGER [7] historisch-kritisch der Frage nach der Herstellung des Zichorienkaffees und deren örtlichen Verbindung mit der Stadt Holzminden im 18. Jahrhundert nach.
Mit der Konzession vom 28. Dezember 1769 aus Braunschweig - Serenissimi gnädigste Verordnung, das dem Major von Heine behuf seiner Cichorienpulver-Fabrik verliehene besondere Siegel betreffend - wurde marktstrategisch eine Vignette (Siegel als Warenzeichen) etabliert.
Das Siegel zeigt im Vordergrund einen Sämann, der auf einem vorbereiteten Feld Zichoriensamen ausstreut.
Im Hintergrund ist vor einer afrikanischen Inselkulisse ein Kaffee-Segelschiff dargestellt, verbunden mit den zurückweisenden Worten „Ohne euch gesund und reich".[2][10]
[2]
Nur wenig später gelang es mit „Serenissimi gnädigste Verordnung, das dem Major von Heine und dessen Associé Christian Gottlieb Förster verliehene Privilegium exclusivum wegen der Cichorien-Pulver-Fabrike betreffend“ vom 14. April 1770 für sieben Jahre eine Privilegierung der Cichorienfabrik des Majors von Heine und Christian Gottlieb Försters zu alleiniger Herstellung von Zichorienpulver von Herzog Carl I. von Braunschweig-Wolfenbüttel (1713-1780) zu erhalten.[6][10]
Zichorien-Vorratsbehälter
Zichorienmühle in Potsdam │ Mühlenturm mit Wohnhaus
Zichorienblüte
© [hmh, Foto: Klaus A.E. Weber
Koffeinfreier Kaffee-Ersatz
In der Literatur und warenkundlich wird u.a. unterschieden zwischen [4]
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Kaffee-Ersatz
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Kaffeezusatz ("Kaffeegewürze")
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Malzkaffee
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Getreidekaffee (Gerste, Roggen (Korn), Weizen)
-
Zichorienkaffee
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Feigenkaffee
- Muckefuck (Mocca-Faux)
In den 1950er-Jahren musste auf das beliebteste Heißgetränk „Echter Bohnenkaffee“ verzichtet werden, denn Kaffeebohnen waren Mangelware.[1]
Stattdessen nutzte man Alternativen.
Gewöhnliche Wegwarte (Cichorium intybus)
© [hmh, Foto: Klaus A.E. Weber
Die Zichorie (Cichorium intybus)
Die mehrblättrige, blau blühende Gemeine oder Gewöhnliche Wegwarte, die Zichorie, ist eine in Europa und Asien vorkommende Wildpflanze, die auf Weiden, Ödland und an Straßen- oder Wegrändern gedeiht .
Im Jahr 2020 ist die Gemeine Wegwarte „Heilpflanze des Jahres“.
Das Korbblütengewächs bildet eine lange, mehrköpfige Pfahlwurzel aus.
Der Milchsaft der verdickten Wurzeln enthält verschiedene Bitterstoffe, wie in erster Linie Sesquiterpenlactone Lactucin und Lactucopikrin.
Als weitere Inhaltsstoffe gelten:
Aesculetin, Aesculin, Cichoriin, Umbelliferon, Scopoletin, 6,7-Dihydroxycumarin, weitere Sesquiterpenlactone und deren Glykoside.
Auch speichern die Wurzeln als Reservekohlenhydrat Inulin.
Die Zichorie ist seit der Antike als Heilpflanze bekannt.
In der Volksmedizin wurde das Heilkraut als kräftigendes, verdauungsförderndes und die Nierentätigkeit anregendes Mittel eingesetzt.[3], aber auch für Blätterumschläge bei Schwellungen und Entzündungen, zudem glaubte man an ihre Wirkung als Gegengift bei Leberbeschwerden.
Seit dem 17. Jahrhundert wird aus den gerösteten Wurzeln "Zichorie" hergestellt.
Zichorienmühlen zur Herstellung von Kaffee-Ersatz aus Zichorienwurzeln waren für das Emsland typisch.
„Braunschweigischer“ und „Preußischer Cichorien-Caffee“
Ab Mitte des 18. Jahrhunderts gab es mit der Zichorie zudem einen Kaffee-Ersatzstoff, der mit Getreide gemischt und geröstet wurde.
Hierfür wurden Zichorien-Wurzeln ("Wurzelzichorie")
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im September oder Oktober ausgegraben
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gereinigt
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geschält
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in Stücke geschnitten
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an einem luftigen Platz getrocknet
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gedarrt
Unter ständigem Wenden in einer Pfanne ohne Fett wurden die trockenen Wurzelstücke geröstet bis sie sich bräunlich verfärbten.
Nachdem ihrer Abkühlung können sie in einer Kaffeemühle zu Pulver zermahlen und als Ersatzkaffee verwendet werden.
Gefördert wurde der Anbau der Wurzelzichorie auch durch den preußischen König Friedrich II. (1712-1786).
Fortan wurde in Damenkreisen „Braunschweigischer“ und „Preußischer Cichorien-Caffee“ getrunken.
EGGER beschreibt 1950 lebensmittelchemisch [5], der Zichorien-Kaffee (kurz Zichorie) sei ein Erzeugnis,
- welches "aus den gereinigten Wurzeln der Zichorie (Cichorium intybus) auch unter Zusatz von Zuckerrüben, geringen Mengen Speisefett, Speiseöl, Speisesalz, Alkalikarbonaten durch Rösten und Zerkleinern mit oder ohne nachherige Behandlung mit Wasserdampf oder Wasser hergestellt" würde.
- Der Wassergehalt betrage bis 30 % und der Zuckerrübenzusatz sei auf 25 % beschränkt.
Muckefuck
Ist „Bohnenkaffee“ nicht verfüg- oder bezahlbar, greift man auf unterschiedliche Kaffee-Ersatzstoffe zurück (u.a. Malz-, Getreide- oder Zichorien-Kaffee).
Als sich Lebens- und Genussmittel im Ersten Weltkrieg (1914-1918) und Zweiten Weltkrieg (1939-1945) verknappen, brüht man den leicht bitteren „Zichorien-Kaffee“ - auch „Muckefuck“ genannt.
Wahrscheinlich geht die Bezeichnung auf den französischen Begriff „mocca faux“ = „falscher Kaffee“ zurück.
Getreidekaffee - mit Zichorien-Anteil
Ein koffeinfreier Getreidekaffee besteht als "Landkaffee" aus
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Malz
-
Gerste
-
Roggen
- mit Zichorien-Anteil.
Mit heißem Wasser überbrüht, war das lösliche Kaffee-Surrogat nach dem Ziehenlassen und Abgießen sofort trinkfertig verfügbar.
LINDE’S® – Aufbrühbarer Kornkaffee mit Zichorie
Der original Linde’s Kornkaffee besteht zu 100 % aus natürlichen Zutaten - wie Zichorie (17,4%), Malz, Roggen und Gerste (30,6 %).
© [hmh, Foto: Klaus A.E. Weber
∎ Linde │ Kaffeemittel-Mischung │ ¼ kg │ mit Kneipp Malzkaffee
ab 1947
Linde ist eine Mischung aus Malzkaffee, Roggenkaffee, Gerstenkaffee und Kaffeezusätzen. │ Aus reinen Naturprodukten hergestellt.
[hmh Inv.-Nr. 20001
Aufschrift:
Etwa 4 gehäufte Eßlöffel (4-6 dkg) Linde ohne sonstige Zutaten in 1 Liter Wasser kurz aufkochen und 5 Minuten zugedeckt ziehen lassen, dann abseihen und je nach Geschmack Milch und Zucker hinzufügen.
Trocken lagern!
Inhalt 250 g
Franck und Kathreiner Ges. m. b. H. Linz/Wien
⋙ Stadtgeschichte Linz: Franck und Kathreiner nach 1945 in Österreich
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[1] Freilichtmuseum am Kiekeberg.
[2] Abb. aus KRETSCHMER 1981, S. 221.
[3] FISCHER-DÜCKELMANN 1926, S. 80, 911 Tafel 30 Heilpflanzen III Nr. 5.
[4] EGGER 1950, S. 281-286.
[5] EGGER 1950, S. 283.
[6] KRETSCHMER 1981, S. 219-221.
[7] SEELIGER 2020.